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Vor rund hundert Jahren wurde die Rote Hilfe Österreichs als Hilfsorganisation für politisch Verfolgte aus der Arbeiterbewegung und deren Familien gegründet. Trotz ihrer Anbindung und die KPÖ und ihre Leitung durch die Kommunistin Malke Schorr hatte die Rote Hilfe einen überparteilichen Anspruch. So gehörten ihr nicht nur zahlreiche Parteilose und Sozialdemokrat*innen an, sie setzte sich auch für verhaftete Schutzbündler ein. Arbeiter*innen, die aufgrund ihrer politischen Aktivitäten angeklagt wurden, stellte die Rote Hilfe Anwälte. Den Familien politischer Gefangener half sie mit Geld und Lebensmittelspenden beim Lebensunterhalt. Ein besonderer Schwerpunkt der österreichischen Roten Hilfe lag in den 1920er Jahren in der Unterstützung von linken politischen Flüchtlingen aus autoritär oder faschistisch regierten Nachbarländern wie Italien oder Ungarn. Im Rahmen der Internationalen Roten Hilfe mit weltweiten Sektionen beteiligte sich die österreichische Rote Hilfe auch an Kampagnen gegen Verfolgung in anderen Ländern, so auch gegen die drohende Hinrichtung afroamerikanischer Jugendlicher in den Südstaaten der USA. Unter dem Austrofaschismus und dem Nazifaschismus leistete die Rote Hilfe aktiven Widerstand, so auch in Hallein, wo u. a. Agnes Primocic die Familien politisch Verfolgter unterstützte. Der Vortag soll einen Überblick über Geschichte und Aktivitäten der Roten Hilfe Österreichs geben.
20.02.2024 von 18:30 bis 20:00
Ort: Keltenmuseum Hallein, Pflegerpl. 5 (Salzburg)
https://www.erinnern.at/bundeslaender/salzburg/termine/vortrag-die-rote-hilfe-in-oesterreich
Anlässlich des 120. Geburtstags von Hans Litten erschienen einige lesenswerte Artikel zum Leben und Wirken des engagierten RHD-Anwalts, u.a. im Magazin Jacobin und bei der Roten Hilfe OG Hannover:
https://jacobin.de/artikel/der-anwalt-des-proletariats-hans-litten-rechtsanwalt-rote-hilfe-babylon-berlin-adolf-hitler-gustav-noske-weimarer-republik-andre-paschke/
https://hannover.rote-hilfe.de/vor-120-jahren-wurde-hans-litten-geboren-ein-kurzes-leben-34-jahre-7-monate-und-16-tage-ein-kurzes-anwaltsleben-4-jahre-und-5-monate-und-1-tag/
Vor 120 Jahren wurde Hans Litten geboren. Ein kurzes Leben, 34 Jahre, 7 Monate und 16 Tage. Ein kurzes Anwaltsleben, 4 Jahre und 5 Monate und 1 Tag
„Auf dem Höhepunkt seiner Moabiter Tätigkeit habe ich Litten einmal zugeredet, er möge weniger intransigent sein, es manch mal billiger geben und nicht immer alles auf die Spitze treiben; wir würden ihn sonst nicht lange in Moabit behalten und könnten ihn doch gut brauchen. Er hat erwidert, er sei überzeugt, es werde ohnehin nicht lange mehr mit unserem Rechtswesen dauern, schon deshalb sehe er keinen Grund zu Konzessionen. Ich muss gestehen, er sah die kommenden Dinge genauer als ich.“
„Der Rechtsanwalt Litten trat in den politischen Prozessen entweder als Verteidiger auf – wenn Kommunisten angeklagt waren; oder als Vertreter der Geschädigten, das heißt der Verwundeten oder der Witwen und Waisen von Getöteten – wenn Nationalsozialisten auf der Anklagebank saßen. Das letztere war eine besonders wichtige Aufgabe, aus einem Grunde, der wieder mit der politischen Situation zusammenhing. Wie ich schon gesagt habe, begannen auch die beamteten Juristen in Moabit dem Druck von rechts zu weichen. Woran man ja sonst überall im Reich während der ganzen republikanischen Zeit gewöhnt war, das trat auch hier ein: man konnte sich nicht mehr darauf verlassen, daß das Recht ohne Rücksicht auf die Partei angewendet wurde. Waren Linke angeklagt, so war Verfolgung unnachsichtlich; sollten sich aber Nationalsozialisten verantworten, so schien die Untersuchung nicht immer lückenlos, manchmal war es, als ob die Staatsanwaltschaft mehr im Interesse der Täter handle als der von der Tat Getroffenen, als ob sie mit der Verteidigung im Bunde sei. Unerklärlich war das schließlich nicht; die Beamten dachten an ihre Zukunft, und die Zukunft gehörten offenbar irgendeiner Art der nationalistischen Reaktion, vielleicht sogar den Nazi selbst.
Litten hatte Erfolg. Der heilige Eifer, den er der Sache widmete, der unermüdliche Ernst, mit dem er sich seiner Aufgabe unterzog, die Ausschließlichkeit, mit der er Zeit und Arbeitskraft opferte – so außerordentliche Anstrengungen machten sich bezahlt. Nicht allerdings im materiellen Sinn; meist verdiente er kaum genug, um sein Büro laufend zu erhalten. Aber juristisch für die Wahrheitsfindung lohnte der Eifer sich. Einmal wurde eine Gruppe von Kommunisten freigesprochen, weil es gelang, nachzuweisen, daß sie überfallen worden waren und in gerechter Verteidigung gehandelt hatten. Ein anderes Mal wurden Nationalsozialisten, ein sogenannter „SA-Sturm“, verurteilt, die einen politischen Gegner getötet hatten.“
Auszüge aus: Rudolf Olden, Vorwort für das Buch von Irmgard Litten „Eine Mutter kämpft gegen Hitler“
Max Fürst, ein Freund aus Jugendzeiten, schreibt über Hans Littens Vorgehen bei den Prozessen folgendes:
„Oft ging er dabei bis an die Grenzen dessen, was Konvention und Standesbewußtein einem Anwalt zubilligten, und mancher Richter versuchte durch Anrufung des Standesgerichtes der Anwaltskammer sich des unliebsamen Anwalt des Rechts zu entledigen. Hans war jedoch nach allen Seiten auf der Hut und so scheiterten die verschiedenen gegen ihn eingeleiteten Verfahren. Seine gründliche Gesetzeskenntnis rette ihn jedesmal, wenn man glaubte, ihn bei seiner temperamentvollen Engagiertheit fassen zu können. […] Er setzte sich ohne Vorbehalte für seine Mandanten ein; die standesgemäße Zurückhaltung, die auch viele der großen liberalen und sozialistischen Anwälte auszeichnete, kümmerte ihn nicht.“
Aus: Max Fürst, „Talisman Scheherezade“, S: 330

Ein paar Schlaglichter aus seinem Leben:
Hans Litten wurde am 19. Juni 1903 in Halle an der Saale in eine großbürgerliche Familie geboren.
Durch die Stellung des Vaters als Dekan der juristischen Fakultät und Rektor der Universität, Geheimer Justizrat und Berater der preußischen Regierung konnte dieser immerhin verhindern, dass Hans vom Gymnasium flog. Auf die Frage, ob man ein Bild von Hindenburg in der Schule aufhängen solle, hatte er geantwortet, er sei schon immer dafür gewesen, ihn aufzuhängen. Wichtiger als der erzkonservative Vater war für die weitere Entwicklung von Hans aber wohl die Mutter, in deren Familie eine eher humanistische Grundhaltung galt.
In seiner Jugend in Königsberg wandte sich Litten zusammen mit seinem Jugendfreund Max Fürst einer deutsch-jüdischen Jugendgruppe mit sozialrevolutionären Ideen zu, genannt der „Schwarze Haufen“ die sich erst 1928 auflöste.
Im selben Jahr ließ Hans sich nach Abschluss des Jura Studiums mit dem zehn Jahre älteren, der KPD nahestehenden und für die Rote Hilfe tätigen Rechtsanwalt Ludwig Barbasch in einer gemeinsamen Anwaltskanzlei in Berlin nieder.
…“ Die Justizrealität der 20er Jahre bot anschaulicheres Material über das Verhältnis von Justiz, Legalität und Demokratie als die Seminare an der Universität: der Kapp-Putsch vom März 1920, deren Führer ohne Ausnahme strafrechtlich unbehelligt blieben; die ungesühnten Morde der Konterrevolutionäre an über 300 Arbeitern, während die Anhänger der bayerischen Räterepublik zu insgesamt 973 Jahren Festungshaft, 368 Jahren Zuchthaus und 3502 Jahren Gefängnis verurteilt wurden; der Hitler-Putsch vom 9. November 1923, der Hitler lediglich vier Jahre Festungshaft einbrachte und dem Ende November das KPD-Verbot und der Terror der Reichswehr folgte; das Ermächtigungsgesetz vom 8. Dezember 1923, welches mit dem Ausnahmezustand die Grundrechte beschnitt; die Aufhebung des Acht-Stunden-Tages etc.
Als sich Hans Litten … niederließ, hatte er diese Lektionen der Weimarer Klassenjustiz ebenso gründlich gelernt wie die Strafprozessordnung, die seine wirksamste Waffe war. …“ (Portrait: Hans Litten Von Norman Paech https://www.vdj.de/portrait-hans-litten)
siehe dazu auch: Gumbel, Emil J.: Vier Jahre politischer Mord (Berlin-Fichtenau 1922). 11.5.2011, online unter https://www.gutenberg.org/cache/epub/39667/pg39667.txt
Schon in seinem ersten Prozess zeigte er sein Können, seinen Mut und sein Engagement: der pazifistische Anarchist Ernst Friedrich war wegen Beleidigung angeklagt worden – er hatte Gustav Noske in seiner Zeitschrift „Die Schwarze Fahne“ einen »Lump« und »Schurken« genannt hat. Litten versuchte eine größtmögliche Öffentlichkeit zu schaffen und ging offensiv mit Anträgen zur Ladung von Zeugen und Sachverständige vor, um zu zeigen, dass die Bezeichnungen durchaus zutreffend gewesen wären. Nachdem Ernst Friedrich verurteilt worden war organisierte Hans eine Demonstration, auf der eben diese Sachverständigen sprachen und die reaktionäre Justiz angriffen. Sein Plädoyer, das sich ausführlich mit Noskes Rolle bei der Niederschlagung der Novemberrevolution befasste, veröffentlicht er.
Dieser Stil zog sich durch seine gesamte Tätigkeit als Anwalt: Hans Litten war immer außerordentlich gut vorbereitet, er verstand sein Handwerk und er war äußerst kämpferisch und hartnäckig. Darüber hinaus versuchte er selbst Sachverhalte zu ermitteln, wie später in den großen Prozessen gegen faschistische Schlägerbanden. Und vor allem: er war parteilich!
Wie sein Kollege Ludwig Barbasch arbeitete Hans von da an mit der Roten Hilfe für die Verteidigung von Proletariern und Proletarierinnen, die vor der Klassenjustiz standen. „Er wirkte dort neben so bekannten Anwälten wie Ludwig Bendix, Georg Cohn, Oskar Cohn-Bendit, Josef Herzfeld, Heinz Kahn und Fritz Löwenthal. Eine besonders enge Zusammenarbeit verband ihn mit Eva Eichelbaum und Hilde Benjamin, der späteren Justizministerin in der DDR. Seine Tätigkeit für die Rote Hilfe gestaltete sich aber keineswegs weltanschaulich harmonisch, weil er von dieser Organisation als Mensch mit anarchistischen Tendenzen eingeschätzt wurde. … Diese weltanschaulichen Gegensätze führten aber zu keinem Zeitpunkt zu einem Zerwürfnis zwischen ihm und der Organisation. Die Zusammenarbeit blieb ungetrübt bis zu seiner Verhaftung, auch als die Rote Hilfe mangels entsprechender Mittel die Vergütungssätze drastisch senken mußte. (Heinz Düx
Er verteidigte Teilnehmer der vom Polizeipräsidenten verbotenen Kundgebung am 1. Mai 1929 in Berlin, bei deren „Auflösung“ mehr als 30 Demonstrierende getötet, Hunderte verletzt und etwa 1200 verhaftet worden waren. Hans Litten als Demonstrationsteilnehmer hatte am U-Bahneingang Münchstraße beobachtet, wie Polizisten einen Mann niederschlugen und traten. Er drängte sich durch die Polizisten mit der Erklärung, er wolle als Anwalt ein Protokoll aufnehmen. Daraufhin wurde er selbst mißhandelt, ließ sich jedoch nicht davon abhalten, den Namen des Mißhandelten und einiger Zeugen festzustellen. Viele wurden angeklagt wegen schweren Landfriedensbruchs und Aufruhr. Wieder setzte Hans auf öffentliche Aufmerksamkeit: Der »Ausschuss zur Untersuchung der Berliner Mai-Vorgänge« wurde gebildet, an dem sich neben ihm auch Alfred Döblin, Heinrich Mann, Egon Erwin Kisch und Carl von Ossietzky beteiligten. Und er drehte den Spieß um: In weiteren Prozessen beschuldigte er den Polizeipräsidenten öffentlich des Mordes, um ihn zu einer Beleidigungsklage zu zwingen. Zörgiebel tat ihm den Gefallen nicht, dennoch bekam Hans die gewünschte große Aufmerksamkeit.
In beiden genannten Fällen genügte es Hans also nicht, einfache Strafverteidigung zu betreiben, er versuchte, bis in höchste politische Ebenen hinein die Verantwortlichen dingfest zu machen. „… Dazu benutzte er nicht nur die immer stumpfer werdenden Waffen der Prozessordnung, sondern gleichzeitig die öffentlichen Veranstaltungen der Roten Hilfe, die er durch ausgiebige Vernehmungen von Zeugen zu öffentlichen Tribunalen der Wahrheitsfindung ausbaute.“ … (Portrait: Hans Litten Von Norman Paech https://www.vdj.de/portrait-hans-litten)
Berühmt geworden ist vor allem der Prozess zum Überfall auf das Tanzlokal Eden in Berlin-Charlottenburg. Am 22.November 1930 hatte ein SA-Rollkommando das überwiegend von linken Arbeitern und Arbeiterinnen besuchte Lokal überfallen. Die Aktion war planmäßig vorbereitet, die polizeilichen Ermittlungen im Anschluss an die Tat verliefen vollkommen unzureichend. In einer großen öffentlichen Veranstaltung vernahm Hans Zeugen zu dem Überfall und vertritt die Nebenklage von verletzten Arbeitern.
In dem Prozess ging es ihm neben der strafrechtlichen Verfolgung der unmittelbaren Täter darum, aufzuzeigen, dass die solche Überfälle Teil einer Strategie der NSDAP wären um die Republik zu destabilisieren. Damit konnte er die von Hitler kurze Zeit vorher vor dem Leipziger Reichsgericht beschworene Legalität der “Nationalen Revolution” demontieren. Tatsächlich lässt er Hitler vorladen und befragen und versuchte damit die Unglaubwürdigkeit der Legalitätsversicherungen der Faschisten nachzuweisen – im Laufe der Vernehmungen konfrontierte Hans den Zeugen Hitler mit der Schrift „Der Nazi-Sozi“ des Reichspropagandaleiters der NSDAP Goebbels, in der er forderte, das Parlament auseinander zu jagen, die Macht zu ergreifen und die „Gegner zu Brei zu stampfen“. Litten scheiterte zwar mit seinem Vorhaben, das Gericht durch die Befragung des Zeugen Hitler davon zu überzeugen, dass die oft tödlichen Angriffe durch Rollkommandos der SA eine bewusste Strategie der NSDAP waren. Die Angehörigen des SA-Sturms 33, die den Eden-Palast angegriffen hatten, wurden aber zu hohen Haftstrafen verurteilt. In der mehrstündigen Vernehmung entlarvte Litten Hitlers Schutzbehauptungen und Notlügen. Hitler sah sich genötigt sich von Goebbels zu distanzieren- so stehe SA für Sportabteilung – als ihn Litten immer wieder in Widersprüche und Ausflüchte trieb, und musste seine Verfassungstreue beschwören. Hitler war durch Littens Befragung völlig in die Enge getrieben und aus der Fassung geraten. Diese Blamage hat er Hans nie verziehen. Bei der Erwähnung seines Namens bekam er einen roten Kopf, so zum Beispiel Robert Freisler.
„… Litten hatte ihm aber doch gehörig zugesetzt. Es ging nicht so leicht ab wie in Leipzig, wo ihm die Reichsrichter einfach die Stichworte zu einer Propagandarede geliefert hatten. Litten hatte nicht wenige Zitate aus der nationalsozialistischen Literatur zur Hand, – „die Gegner zu Brei zerstampfen“, „von der Revolution des Worts zur Revolution der Tat übergehen“, und anderes mehr, – er vernahm den prominenten Zeugen mit der ihm eigenen beharrlichen Ruhe, machte ihn ein paarmal wütend und ließ zwei Stunden lang beträchtlich schwitzen. Ob damals irgend jemand im Saal eine Ahnung hatte, daß er sich selbst das Urteil qualvollen Todes gesprochen hatte? Ich glaube, keiner von uns vermochte so weit zu blicken. …“ (aus: Rudolf Olden, Vorwort für das Buch von Irmgard Litten „Eine Mutter kämpft gegen Hitler“ Internet: https://www.hans-litten.de/sein-leben/der-junge-anwalt/)
In der faschistischen Presse wurde von da ab gegen Hans Litten gehetzt, bis hin zu kaum verhohlenen Mordaufrufen. Die Erlaubnis zum Führen einer Schusswaffe wurde ihm mit der Begründung abgelehnt, dass der »allgemeine Polizeischutz« ausreichend sei. Da dies offenkundig absurd ist, stellte ihm die Rote Hilfe zeitweise Arbeiter als Begleitschutz. Den Vorschlag, für eine Zeit ins Ausland zu gehen, lehnte er mit der Begründung ab: „Die Millionen Arbeiter können nicht hinaus, also muß ich auch hier bleiben.“
„…Mehrere Prozesse schlossen sich an, in denen es um bewaffnete Überfälle des berüchtigten SA-Sturms 33 ging – mit der immer häufigeren Konstellation, dass nicht die Täter, sondern die Opfer auf der Anklagebank saßen. So im Röntgenstraßen-Prozess. Vor dem SA-Lokal in der Röntgenstraße 12 wurde am Abend des 29. August 1932 eine Gruppe Arbeiter angegriffen, die von einer Versammlung kam. Zwei SA-Leute blieben verletzt, einer tot zurück. Auf die Anklagebank kamen neun der Arbeiter wegen Totschlags aus politischen Motiven, worauf die Todesstrafe stand. In umfangreichen Recherchen und immer neuen Beweisanträgen gelang es Litten, die Nazi-Zeugen zu demontieren, die verkehrten Fronten umzudrehen und die Anklage zu Fall zu bringen. Die SA-Männer waren von ihren eigenen Leuten verwundet bzw. erschossen worden. Am 6. Oktober wurden alle Angeklagten freigesprochen. Zur fälligen Anklage der Nazis wegen Landfriedensbruch kam es allerdings nicht. …“… (Portrait: Hans Litten Von Norman Paech https://www.vdj.de/portrait-hans-litten)
Ein weiterer Prozess war der sogenannte Felsenecke-Prozess; wieder ging es um einen Überfall eines faschistischen Kommandos, dieses Mal am 19.Januar 1932 auf die Lauben-Kolonie Felsenecke, bei dem ein Arbeiter und ein Faschist getötet worden waren. Im Verlauf des Prozesses wurde Hans Litten wegen »Missbrauchs der Rechte des Verteidigers zu politischen Zwecken« von dem Prozess ausgeschlossen, denn er würde den Prozess in die Länge ziehen und »hemmungslose parteipolitische Propaganda« treiben. Die nächsthöhere Instanz kassiert den Beschluss. In einem neuen Prozess zu der Sache wurde er dann wieder ausgeschlossen, nun wegen einer angeblichen strafbaren Begünstigung eines Mandanten. Dieses Mal hielt die Entscheidung in der höheren Instanz. Zwei kommunistische Angeklagte wurden schließlich aufgrund von Diebstahls des Fahrrades eines SA-Mannes zu sechs Monaten Zuchthaus verurteil, die schon durch die Untersuchungshaft abgebüßt waren. Das Verfahren gegen die SA-Männer wurde aufgrund der Weihnachtsamnestie im Dezember 1932 eingestellt.
In der Arbeiter-Illustrierte-Zeitung (AIZ) vom 11. September 1932 bewertete Hans Litten den Prozess: “Der Satz von Karl Marx, dass das Recht ein Überbau der sozialen Gegebenheiten sei, erweist seine Richtigkeit besonders in Zeiten verschärfter Klassengegensätze. In solchen Zeiten ändern sich die gesellschaftlichen Grundlagen so schnell, dass die Gesetzgebungsmaschine mit der Entwicklung nicht immer Schritt hält. An einem Prozess, der monatelang dauert, kann man in solchen Zeiten besonders deutlich beobachten, wie die Verhandlungsweise sich der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung anpasst. Der Felsenecke-Prozess, der am 20. April 1932 begann, bildet heute den letzten Überrest ordentlicher Gerichtsbarkeit in politischen Sachen inmitten der Arbeit der Sondergerichte. Aber die Entwicklung konnte auch an dem schwebenden Verfahren nicht vorbeigehen. Was in Sondergerichtsverfahren durch Gesetzgebung im Notverordnungswege eingeführt wurde, erreichte man im Felsenecke-Prozess auf anderem Wege. In politischen Prozessen widerspricht die Aufklärung der Hintergründe häufig dem Interesse der herrschenden Klasse.”

„Interview mit Rechtsanwalt Litten“. In: Die Rote Fahne 170 (1932), S. 4.


In der Nacht des Reichstagsbrandes wurde Hans Litten in den frühen Morgenstunden des 28. Februar 1933 verhaftet und in das Polizeipräsidium am Alexanderplatz gebracht. Zunächst kam er wie die gesamte politische Linke Berlins, nach Spandau ins Polizeigefängnis und blieb „als gefährlicher kommunistischer Rädelsführer“ auf Dauer in Haft. Viele der Anderen kamen nach Misshandlungen vorerst wieder frei, Hans Litten von da an nie mehr.
In den Konzentrationslagern Sonnenburg, Brandenburg, Esterwegen, Lichtenburg, Buchenwald und Dachau war er permanenten Misshandlungen ausgesetzt. In der Wachmannschaft von Lichtenburg befanden sich Angehörige des SA-Sturms 33, zu deren Verurteilung Litten im Eden-Palast-Prozess zwei Jahre zuvor wesentlich beigetragen hatte. Sie erinnerten sich an daran und misshandelten Hans Litten so schwer, dass er danach mehrere Monate im Gefängniskrankenhaus in Moabit verbrachte.

Vom Tage seiner Verhaftung an versuchte die Mutter alle ihre alten Verbindungen zu den konservativen Kreisen zu mobilisieren und drang dabei sogar bis zu Goebbels vor, um die Freilassung ihres Sohnes zu erreichen, alles blieb erfolglos. Immerhin gelang es ihr, dass sie fast die gesamte Haftzeit über Kontakt zu ihrem Sohn behalten konnte. Nicht einmal Petitionen wie die von bekannten britischen Persönlichkeiten oder die von über 100 englischen Juristen hatten keinerlei Erfolg. Hitler hatte den Eden-Prozess nicht vergessen. Irmgard Litten dokumentierte ihren mutigen Kampf in einem zunächst auf Englisch unter dem Titel „A Mother Fights Hitler“ erstmals 1940 erschienenen Buch, das in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Die erste Ausgabe auf Deutsch erschien 1947 im Greifenverlag in Rudolstadt in der DDR. In Paris erschien in den Éditions Nouvelles Internationales, ebenfalls 1940: Litten, Irmgard: „Die Hölle sieht dich an. Der Fall Litten.“
Bis zu seinem Tod war Litten immer wieder schlimmster Gewalt ausgesetzt. Von den Folterungen in den Tod getrieben, erhängt sich Hans Litten am 5. Februar 1938 in Dachau. Die letzte Ruhe fand er auf einem Pankower Friedhof.
„… Seine Mutter emigriert nach England, ruft dort über die BBC die Deutschen zum Widerstand auf und kehrt 1949 in die Bundesrepublik Deutschland zurück, wird dort aber zurückhaltend empfangen und muss sich mit dem neuen deutschen Staat über Entschädigung und den Pensionsanspruch ihres Mannes streiten. 1951 geht sie nach Ost-Berlin, wo Teile ihrer Familie leben und bleibt dort bis zu ihrem Tod zwei Jahre später. In der DDR erscheint ihr Buch erstmals auf Deutsch und ihr Sohn erfährt als Märtyrer große Ehrungen. Beispielsweise wird die Straße, in der das Ostberliner Kammergericht (heute Gebäude des Landgerichts Berlin) liegt, in Littenstraße umbenannt.
Die BRD hingegen vergisst Hans Litten zunächst vollständig. Erst Ende der 1980er Jahre beginnen sich insbesondere linke Juristinnen und Juristen, die auf der Suche nach einer progressiven Tradition ihres Berufsstands sind, mit ihm zu beschäftigen. Das Buch Irmgard Littens erscheint zum ersten Mal in der BRD, die Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen verleiht 1988 zum ersten Mal ihren Hans-Litten-Preis, der seitdem alle zwei Jahre an Juristinnen und Juristen verliehen wird, die in besonders hohem Maße demokratisches Engagement bewiesen haben.
Ende der 1990er Jahre beginnt dann eine »Umarmung« und Eingemeindung in den liberalen Mainstream: Wollte 1992 die Berliner CDU die Littenstraße noch umbenennen, kann man schon 1998 im Anwaltsblatt des Deutschen Anwaltvereins in einer Erinnerung an den »unvergessenen Anwalt« von Littens heroischem Kampf lesen, nicht allerdings ohne den Hinweis, dass dieser natürlich kein Kommunist gewesen sei. Zum Jahreswechsel 2000/01 bezieht die Bundesrechtsanwaltskammer ihr neues Büro in der Littenstraße, an dem heute eine Gedenktafel für Hans Litten hängt. Aus diesem Anlass wird auch das Gebäude nach ihm benannt. …“ aus: Der Anwalt des Proletariats von André Paschke https://jacobin.de/artikel/der-anwalt-des-proletariats-hans-litten-rechtsanwalt-rote-hilfe-babylon-berlin-adolf-hitler-gustav-noske-weimarer-republik-andre-paschke/

Im Internet zu finden:
- Portrait: Hans Litten von Norman Paech https://www.vdj.de/portrait-hans-litten
- Der Anwalt des Proletariats von André Paschke https://jacobin.de/artikel/der-anwalt-des-proletariats-hans-litten-rechtsanwalt-rote-hilfe-babylon-berlin-adolf-hitler-gustav-noske-weimarer-republik-andre-paschke/
- Hans Litten, umfangreiche webseite, https://www.hans-litten.de/
- Bericht zur Lesung des Theaterstücks im historischen Plenarsaal des Kammergerichts 2016 file:///C:/Users/NB01/Downloads/DAV%20Artikel.pdf
- Hans Litten: Hitlers Ankläger https://www.tekla-szymanski.com/hans-litten/
- Litten und Hitler – der Edenpalast-Prozess vor dem Landgericht Berlin – Wie ein 27 Jahre alter Rechtsanwalt am 8. Mai 1931 die wahren Ziele Adolf Hitlers aufdeckte von Dr. Christoph Mauntel, https://www.anwaltsblatt-datenbank.de/bsab/document/jzs-AnwBl2013120018-000_832
- DIPLOMARBEIT „Hans Litten. Ein Anwalt zwischen den politischen Extremen in der Weimarer Republik“, verfasst von Laura Pfaffenhueme, auch zur Erinnerungskultur zu Hans Litten.file:///C:/Users/NB01/Downloads/39292.pdf
- Auf den Spuren von Hans Litten Fotos und Text: Leonie Schottler https://www.anwaltsblatt-datenbank.de/bsab/document/jzs-AnwBl2013120032-000_9
- Irmgard Litten – “Trotz der Tränen” https://www.convivio-mundi.de/texte-bibliothek/menschenwuerde/trotz-der-traenen.html
- Hans Litten zum 100. Geburtstag, Gedenkveranstaltung am 22. Juni 2003 von Rechtsanwalt Gerhard Jungfer, https://www.brak-mitteilungen.de/media/brakmitt_2003_04.pdf
- Hans Litten Foto https://www.anwaltsgeschichte.de/fotos-und-dokumente/gerichtsfotografie/hans-litten/
- Heinz Düx: Anwalt gegen Naziterror. In: Jürgen Seifert (Hrsg.): Streitbare Juristen. Eine andere Tradition. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 1988 // im Netz zu finden in Friedrich-Martin Balzer: „Heinz Düx – demokratischer Jurist und Antifaschist“ Seite 897: Hans Litten (1903-1938) Anwalt gegen Naziterror, http://www.max-stirner-archiv-leipzig.de/dokumente/DuexHeinzJustizUndDemokratieGesammelteSchriften1948-2013.pdf

httpswww.anwaltsgeschichte.defotos-und-dokumentegerichts
Bücher:
- Eine Mutter kämpft gegen Hitler: Mit einem Vorwort von Rudolf Olden und einem Nachwort von Heribert Prantl Verlag: Ars Vivendi, 2017.
- Ein Mann, der Hitler in die Enge trieb – Hans Littens Kampf gegen den Faschismus – ein Dokumentarbericht. Brück, Carlheinz von: Berlin (DDR), Union Verlag, 1975, darin ausführlich zur Vernehmung Hitlers durch Hans Litten
- Denkmalsfigur: Biographische Annäherung an Hans Litten 1903-1938, Knut Bergbauer, Sabine Fröhlich und Stefanie Schüler-Springorum, Wallstein Verlag, 2008
- Hans Litten – Anwalt gegen Hitler Eine Biographie von Knut Bergbauer, Sabine Fröhlich und Stefanie Schüler-Springorum im Wallstein Vlg. 2022 https://www.wallstein-verlag.de/9783835351592-hans-litten-anwalt-gegen-hitler.html

Schriftenreihe des Hans-Litten-Archiv
zur Geschichte der staatlichen Repression, Band1
Anlass der Veröffentlichung ist der 70. Jahrestag der tödlichen Polizeischüsse auf den Friedensaktivisten Philipp Müller vom 11. Mai 1952 in Essen. Er war das erste Todesopfer im Zuge politischer Verfolgung in der BRD. Im Kalten Krieg gab es vielfältige und geradezu massenhafte Repressionen gegen Kommunist*innen und andere Antimilitarist*innen, und nach dem Aufkommen der
Außerparlamentarischen Opposition kamen in Westdeutschland immer wieder politisch Aktive, besonders auf Demonstrationen, durch Polizeimaßnahmen ums Leben. Auch heute sind die Bedingungen, die damals zur Erschießung Philipp Müllers führten, nicht völlig andere. Im Zuge immer schärferer Polizei- und Versammlungsgesetze erleben wir sogar eine Art Rückentwicklung zum repressiven Klima der Adenauer-Ära.
Der 11. Mai 1952 war ein Moment der Zuspitzung innenpolitischer Auseinandersetzung in der westdeutschen Gesellschaft. Die Konfrontation zwischen Sowjetunion und USA und ihren jeweiligen verbündeten Staaten führte zur Teilung Deutschlands. Die westlichen Besatzungszonen wurden als separater Staat zusammengeschlossen. Die Regierung Adenauer setzte mit aller Kraft auf die Integration ins entstehende westliche Militärbündnis NATO. Dazu gehörte die so genannte Wiederbewaffnung, mit der eine neue westdeutsche Armee gegründet werden sollte. In der Bevölkerung war eine pazifistische Stimmung weit verbreitet. Diese wurde von KPD, FDJ und anderen antimilitaristischen Gruppen und Organisationen bis ins bürgerliche Lager hinein aufgegriffen, unter anderem mit der Kampagne für eine Volksabstimmung über die Remilitarisierung. Mit dem kurzfristigen Verbot der Friedenskarawane in Essen sollte dieser breiten Bewegung ein Ende gesetzt werden. Nach dem 11. Mai wurde kein Polizist vor Gericht gestellt – dafür aber um so mehr politische Aktivist*innen.
Im September 2016 wurde die „Schriftenreihe des Hans-Litten-Archivs zur Geschichte der Roten Hilfe“ mit Silke Makowskis „Helft den Gefangenen in Hitlers Kerkern“ eröffnet. Nun hat es nochmals mehr als fünfeinhalb Jahre gedauert, bis wir als Hans-Litten-Archiv e. V. (HLA) den zweiten Band edieren konnten: In Markus Mohrs umfangreicher, präziser Arbeit „Lesen – Weitergeben – Diskutieren – Weitergehen!“ werden „die Roten Hilfen als Teil der Fundamentalopposition in Westdeutschland im Spiegel ihrer Flugblätter in den Jahren 1969 – 1975“ beschrieben. Die Texte werden flankiert von unzähligen Abbildungen dieses Materials aus den 1960er- und 1970er-Jahren, das – in wertvollen Originalen vorliegend – hierfür intensiv analysiert wurde.
Wir sind Markus sehr dankbar, dass er sich auf solch hohem Niveau unserer sozialgeschichtlichen Aufgabe gestellt hat: die ehedem geführten Kämpfe gegen unzumutbare Verwerfungen gesellschaftlicher Zustände zu erforschen und mit diesem Band zugänglich zu machen. Auf diese Weise wird es möglich, sich die früheren Proteste, Bewegungen und Erfahrungen in der Retrospektive anzueignen und plausibel erlebbar ins Jetzt zurückzuholen: Auf dieser les-, weitergeb- und diskutierbaren Hintergrundfolie können wir so weiter-, vielleicht sogar über die derzeitigen Verhältnisse hinausgehen.
Die Bedeutung, die solch eine detaillierte Aufarbeitung hat, ist nicht zu überschätzen. Nur so lässt sich verstehen, warum es historisch notwendig war, wie sich die fundamentaloppositionellen Roten Hilfen Westdeutschlands (BRD), die aus den 68er-Kämpfen entstanden waren, veränderten: Aus ihrer damals vehement postulierten Unterschiedlichkeit heraus entwickelten sie sich zu dem, was die Rote Hilfe e. V. zurzeit darstellt – eine „parteiunabhängige strömungsübergreifende linke Schutz- und Solidaritätsorganisation“ mit mehr als 14.000 Mitgliedern.
Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre gab es noch keine Informationstechnologie, die es ermöglicht hätte, rasend schnell dissidente Positionen grenzenlos zu streuen oder unmenschliche Repressionsmaßnahmen zu entlarven und zu skandalisieren. Was es aber gab, waren Flugblätter!
Deshalb ist es bedeutsam, sich – wie im nun vorliegenden Konvolut – dieser „Flug-Schriften“ anzunehmen, die laut der Definition in Grimms Wörterbuch von 1854 „auf augenblickliche Wirkung berechnet“ wurden und „meist propagandistisch … abgefasst“ waren. Die nach der Student*innenrevolte der Jahre 1967/68 sich „in West-Berlin und Westdeutschland [ausbreitende] linke Fundamentalopposition … gewann in vielfältig organisatorischer Weise Gestalt; so auch in der Solidaritätsbewegung mit juristisch Verfolgten und Gefangenen“ (Markus Mohr); und eine ihrer bedeutendsten Gestaltungsformen – auch im Hinblick auf die (potenzielle) Ausweitung dieser sozialen Proteste – waren eben Flugblätter. Im Gegensatz zu gebundenen Büchern, die in zahllosen Bibliotheken verwahrt und zumindest antiquarisch noch erhältlich sind, sind Flugblätter nur für eine kurzzeitige, tagesaktuelle Nutzung gedacht. Übriggebliebene Restexemplare wurden von den Verfasser*innen oftmals weggeworfen, und es gab auch über Jahrzehnte hinweg keine linken Forscher*innen, die diese Quellengattung der Rote-Hilfe-Bewegung archiviert, kontextualisiert und (geschichtswissenschaftlich) korrekt „eingeordnet“ hätten. Entsprechend rar ist diese „graue Literatur“, die faszinierende Einblicke in den politischen Alltag der Solidaritätsaktivist*innen der 1970er Jahre gewährt. Zu den frühesten in der BRD verbreiteten Flugblättern mit RH-Bezug gehören jene der „Initiative für Genossenschutz zum Strafprozess gegen Horst Mahler“, mit denen dazu aufgerufen wurde, sich bei der noch aufzubauenden „Rote Hilfe-Organisation“ in „geeigneter Art und Weise politisch zu engagieren“.
Markus führt uns in seinem eröffnenden Kapitel „Flugblatt, auf augenblickliche Wirkung berechnet ...“ kenntnisreich durch die verschlungenen Pfade der ersten RH-Organisierungsansätze, beginnend bei den RH-Komitees, die von der parteimaoistisch ausgerichteten KPD/ Aufbauorganisation (AO) gegründet worden waren. Im Folgenden schildert er die über die Strukturen der bewegungsmaoistischen, „autonomen“ „Gruppe Proletarische Linke/Parteiinitiative“ laufenden Zusammenschlüsse namens RH_★, die es dann bald in West-Berlin, München, Hamburg und Frankfurt am Main geben sollte. Über das am Kommunistischen Bund orientierte Initiativkomitee Arbeiterhilfe (IKAH) geht Markus Mohr zu den ebenfalls „Rote Hilfe“ leistenden, leninistisch grundierten „Komitees gegen Folter“ weiter, die ihren Fokus sehr stark auf die Gefangenen aus der RAF gelegt hatten und diesbezüglich äußerst viele Flugblätter veröffentlichten. Anschließend nimmt er wieder Kurs auf die KPD/AO, die „unter dem Druck einer Verbotsdrohung durch die Bundesregierung“ von West-Berlin weg eine „nationale“, also BRD-weite RH e.V. aus der Taufe heben wollte. Den Abschluss findet dieser Überblick mit der KPD/ ML, die Ende Januar 1975 in Dortmund die Rote Hilfe Deutschlands bildete, aus der dann die heutige Rote Hilfe e.V. entstehen sollte. Was dann kommt, ist die auf sechs Kapitel verteilte Beantwortung der Fragen, wie sich dieser „komplexe Selbstorganisierungsprozess der westdeutschen Fundamentalopposition in ihren Flugblättern gespiegelt“ hat und was „die Themen der Roten Hilfe in ihren Flugblättern“ waren. Markus zieht nach der Sichtung von etwa 500 Flugblättern die Bilanz, dass die Roten Hilfen (bis 1975) zwar vornehmlich „die stets als unerträglich beschriebenen Maßnahmen der Polizei und der Justiz, kurz: die kontinuierliche Brandmarkung von etwas, was als Polizeiterror und Klassenjustiz skandalisiert werden solle“, thematisiert hätten. Zugleich beackerten sie inhaltlich durchaus auch Politikfelder, die weit über die zentralen Topoi antirepressiven Engagements hinausgehen, aber trotzdem aus ihrer Sicht untrennbar damit verbunden waren und deshalb in die Kämpfe miteinbezogen werden mussten – eben weil sie für die damaligen sozialen Bewegungen und deren Träger*innen von elementarer Bedeutung waren: Seien es die heftigen Auseinandersetzungen um (exorbitante) Mietkostenerhöhungen oder die ersten Hausbesetzungen, seien es die teilweise äußerst militant geführten Fahrpreiskämpfe oder die breit wiederaufflammenden Proteste gegen den bis heute nicht abgeschafften Paragraphen 218, seien es die Unterstützungen von ausländischen Arbeiter*innen, denen beispielsweise wegen ihrer Beteiligung an Streiks Ausweisung angedroht wurde, die zahllosen Berufsverbote quer durch alle Bevölkerungsschichten nach dem so genannten Radikalenerlass oder willkürliche Gewerkschaftsausschlüsse – gegen all dies mussten Rote Hilfen massiv in Stellung gebracht werden. Das war notwendig, weil in all diesen Bereichen staatliche Repression in unterschiedlichen Facetten einen besorgniserregenden oder gar angsteinflößenden Ausdruck fand und letztendlich Menschen, die sich für oder gegen etwas eingesetzt hatten, zur „Rechenschaft“ zog – unter Anwendung des ganzen Repertoires gewaltförmiger Disziplinierungsmethoden.
Und die gesichteten Flugblatt-Texte sind erstaunlich aktuell geblieben; ihnen ist oft nicht anzumerken, dass sie schon auf ein Alter von fast 50 Jahren zurückblicken. Wenn wir da lesen können, dass die „Rote Hilfe alle [unterstützt], die wegen ihres Widerstands gegen Ausbeutung und Unterdrückung vor die Schranken der Klassenjustiz gezerrt werden [und] dabei ... jeden politisch Verfolgten durch die Unterstützung in der politischen Prozessführung und durch juristische Hilfe“ bestärkt, dann ist das heute noch von Gültigkeit – und war es auch schon zu den Anfängen der Rote-Hilfe-Komitees ab 1921. Die Zeitlosigkeit vieler der geäußerten Forderungen und Prinzipien belegt, gerade im Angesicht des komplexen Selbstorganisierungsprozesses, der jahrzehntelang durchschritten werden musste, die Kontinuität, die von den Anfängen der Roten Hilfen Anfang der 1970er-Jahre zur derzeitigen strömungsübergreifenden Roten Hilfe e. V. führt.
Mit Markus Mohrs fundierter Untersuchung, die einen von Turbulenzen geprägten Zeitraum von etwa sechs Jahren abdeckt, lässt sich dies hervorragend nachzeichnen. Sie weckt damit ein konturierteres Verständnis der mannigfaltigen Vorgänge, aus denen heraus sich die sehr unterschiedlich ausgerichteten Roten Hilfen zu einer gemeinsamen wachsenden Schutz- und Solidaritätsorganisation zusammengefunden haben. Die Entwicklung wird eindrücklich veranschaulicht anhand von Flugblättern, die verschiedenen Zielsetzungen dienten: Sie mobilisierten, sie agitierten, sie stärkten die radikal linken Strukturen, die mit überbordender staatlicher Repression konfrontiert waren; sie schufen Gegenöffentlichkeit. Sie wurden gelesen, weitergegeben, diskutiert – um danach weiterzugehen. Lasst uns zusammen weitergehen!
Michael Dandl, Vorstand Hans-Litten-Archiv e. V. im Dezember 2021
Verfassungsschutz bezeichnet Hans-Litten-Archiv weiterhin als extremistisch und verfassungsfeindlich
Verfassungsschutz bezeichnet Hans-Litten-Archiv weiterhin als extremistisch und verfassungsfeindlich Bundesinnenminister Horst Seehofer und das Hans-Litten-Archiv werden wohl keine Freunde mehr. Nachdem das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg es letztes Jahr dem Verfassungsschutz verboten hat, das Hans-Litten-Archiv als „extremistische Gruppierung“ zu bezeichnen, hat der Geheimdienst flink die Kategorie „extremistische Struktur, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgt“ geschaffen. Als solche wird das Hans-Litten-Archiv im Mitte Juni vorgelegten Verfassungsschutzbericht des Bundes für das Jahr 2020 im Kapitel über die Rote Hilfe e. V. bezeichnet. Die Verfassungsfeindlichkeit des Archivvereins besteht nach Ansicht des Geheimdienstes in der „nachdrücklichen Unterstützung“ der vom Verfassungsschutz gleichfalls als „linksextremistisch“ eingestuften“ Roten Hilfe e. V. Festgemacht wird dies u. a. an gemeinsamen Lesungen und Veranstaltungen des Archivs mit Ortsgruppen der Rote Hilfe e. V. Gemeint sind wohl Präsentationen einer Broschüre des Hans-Litten-Archivs zum antifaschistischen Widerstand der Roten Hilfe Deutschlands ab 1933. Weiter heißt es im Geheimdienstbericht unter Verweis auf ein ca. 10 Jahre altes Zitat eines Archivmitarbeiters: „Zudem dient die archivarische und aufbereitende Tätigkeit des HLA dazu, ‚junge GenossInnen‘ für die Wurzeln der RH zu begeistern und die aufgearbeitete Historie ‚für die Kämpfe der Gegenwart zu nutzen‘“. Lediglich im Registeranhang, in dem Gruppierungen aufgeführt werden, „bei denen die vorliegenden tatsächlichen Anhaltspunkte in ihrer Gesamtschau zu der Bewertung geführt haben, dass die Gruppierung verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, es sich mithin um eine extremistische Gruppierung handelt“, wird beim Hans-Litten-Archiv gemäß dem Gerichtsurteil in Klammern ergänzt, der Archivverein sei „nicht selbst als extremistische Gruppierung, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, aufgeführt, sondern als Unterstützer einer solchen Gruppierung“ zu sehen. Angesichts der Diffamierung unserer wissenschaftlichen, publizistischen und Bildungsarbeit erscheint es uns belanglos, ob wir nun eine „extremistische Struktur“ oder „Gruppierung“ sein sollen. Denn tatsächlich ist das Hans-Litten-Archiv weder das eine noch das andere, sondern ein Archivverein, der sich der Sammlung historischer Dokumente und der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Geschichte der verschiedenen Rote-Hilfe-Vereinigungen und Solidaritätsorganisationen der Arbeiterbewegung und sozialen Bewegung der letzten hundert Jahre widmet. Dabei ist die Befassung mit Geschichte für uns in der Tat kein Selbstzweck. Denn wir wollen die Erfahrungen und Lehren der Vergangenheit, insbesondere das Eintreten Roter Helferinnen und Helfer gegen Demokratieabbau und Faschismus, wachhalten und für heute nutzbar machen. Wenn der Verfassungsschutz das für extremistisch hält, sagt das vor allem etwas über den Standpunkt dieses Geheimdienstes selbst aus. Erinnert sei daher, dass die Überwachung des Hans-LittenArchivs noch auf die letzten Amtswochen des wegen seiner Verharmlosung neonazistischer Umtriebe für die Bundesregierung untragbar gewordenen Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen zurückgeht, der heute als CDU-Bundestagskandidat mit antisemitischen Anspielungen von sich reden macht. Wir werden gemeinsam mit unseren Anwältinnen und Anwälten beraten, ob es sinnvoll ist, erneute rechtliche Schritte gegen den Verfassungsschutz einzuleiten oder ob wir unsere begrenzten Finanzmittel lieber in den Ankauf seltener historischer Dokumente investieren wollen. Die Mitglieder des Hans-Litten-Archivs e. V. werden sich durch die Diffamierung durch den Verfassungsschutz jedenfalls nicht von ihren wissenschaftlichen und publizistischen Aktivitäten abbringen lassen. Wir appellieren an dieser Stelle an die demokratische Öffentlichkeit, nicht zuzulassen, dass ein Geheimdienst als Zensor zivilgesellschaftlichen und wissenschaftlichen Engagements auftritt. Dr. Nikolaus Brauns, 1. Vorsitzender
das Presseecho:

Die eigene Geschichte nutzbar machen.
„Vorwärts und nicht vergessen, worin unsere Stärke besteht!
Beim Hungern und beim Essen, vorwärts und nie vergessen: die Solidarität!"
(Refrain aus dem Solidaritätslied von Brecht/Eisler 1931)
Die Geschichte der Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung und der sozialen Bewegungen ist zugleich die Geschichte der Solidarität gegen Unterdrückung, Verfolgung und Repression. Um diese andere Seite des Kampfes um Emanzipation nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, wurde am 18. Februar 2005 in Göttingen das Hans-Litten-Archiv gegründet. Ziel des Vereins ist die Errichtung und Förderung eines Archivs der Solidaritätsorganisationen der Arbeiter- und Arbeiterinnenbewegung und der sozialen Bewegungen.
Wir gratulieren der Roten Hilfe zu ihrem 100. Geburtstag! Denn der 12. April 1921 gilt als die offizielle Geburtsstunde der Solidaritätsorganisation für linke politische Gefangene und Verfolgte und deren Angehörige. An diesem Tag erschien in der Tageszeitung „Rote Fahne“ der Aufruf „Hilfe für die Märzopfer“. Darin rief die Zentrale der Kommunistischen Partei Deutschlands unter ihrem Sekretär Wilhelm Pieck zur Bildung von Rote-Hilfe-Komitees auf.
In Folge des von Polizei und Reichswehr blutig niedergeschlagenen Arbeiteraufstandes im mitteldeutschen Industrierevier im März 1921 hatte eine Massenverfolgung linker Arbeiter eingesetzt. Zahlreiche Familien litten Not, da revolutionäre Arbeiter inhaftiert wurden oder untertauchen mussten. Die Komitees der Roten Hilfe sammelten Spenden für die notleidenden Familien. Sie organisierten mit ihren Anwälten Rechtsschutz für die Angeklagten - und sie verhalfen einigen Verfolgten mit falschen Papieren zur Flucht.
1924 ging aus diesen Komitees die Rote Hilfe Deutschlands (RHD) hervor, die trotz ihrer KPD-dominierten Führung bis Anfang der 1930er Jahre zu einer überparteilichen Massenorganisation mit hunderttausenden mehrheitlich parteilosen Mitgliedern anwuchs, an deren Seite zahlreiche bekannte Persönlichkeiten wie der Physiker Albert Einstein, die Schriftsteller Kurt Tucholsky, Heinrich und Thomas Mann und die Künstlerin Käthe Kollwitz sowie engagierte Juristen und Juristinnen wie Felix Halle, Hilde Benjamin und Hans Litten standen. Die RHD gehörte der Internationalen Roten Hilfe an. Dieser weltweite Verbund von Solidaritätsorganisationen mit Millionen Mitgliedern, dem die Frauenrechtsaktivistin Clara Zetkin vorstand, unterstützte politisch verfolgte und inhaftierte sowie von der Hinrichtung bedrohte kommunistische, sozialistische, sozialdemokratische, anarchistische und antikolonialistische Aktivistinnen und Aktivisten ebenso wie Opfer rassistischer Justiz. Die Rote Hilfe engagierte sich für eine demokratische Reform des Justizsystems und Strafgesetzbuches, gegen den Abtreibungsverbotsparagraphen 218 sowie gegen die Todesstrafe und sie trat für ein Recht auf Asyl ein. Unter dem Faschismus leisteten Rote Helfer und vor allem Rote Helferinnen vielfältigen Widerstand, was einige von ihnen mit ihrem Leben bezahlen musste.
Im Gefolge der 68er-Bewegung und der außerparlamentarischen Opposition wurde in Westdeutschland der Rote-Hilfe-Gedanke wieder aufgegriffen und neue Solidaritätsorganisationen unter diesem Namen wurden gegründet. Hier liegen auch die Wurzeln der noch heute in der Bundesrepublik bestehenden parteiunabhängigen und strömungsübergreifenden linken Schutz- und Solidaritätsorganisation Rote Hilfe e.V. mit deutlich über 12.000 Mitgliedern.
Wenn heute in der Bundesrepublik Antifaschistinnen wie Schwerkriminelle gejagt werden, wenn ziviler Ungehorsam bei Klimaprotesten kriminalisiert wird, wenn kurdische und türkische Linke als vermeintliche Terroristen zu langen Haftstrafen verurteilt werden, wenn Grundrechte eingeschränkt und zugleich Polizei und Verfassungsschutz aufgerüstet werden, dann heißt es heute wie schon vor 100 Jahren: „Darum schafft Rote Hilfe!“
Das seit 2005 bestehende Hans-Litten-Archiv e.V. in Göttingen hat es sich zur Aufgabe gemacht, Dokumente zur Geschichte der Solidaritätsorganisationen der Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung sowie der sozialen Bewegungen zu dokumentieren und wissenschaftlich zu erforschen. Einen besonderen Sammlungsschwerpunkt bilden dabei die verschiedenen Rote-Hilfe-Vereinigungen der letzten 100 Jahre. Auf unserer Website www.hans-litten-archiv.de stellen wir einen wachsenden Teil unserer Sammlung der Öffentlichkeit vor.
Wir möchten zudem auf die von unserem Vorstandsmitglied Silke Makowski verfasste Broschüre „Darum schafft Rote Hilfe! Die Rote-Hilfe-Komitees ab 1921“ hinweisen, die jetzt von der Roten Hilfe e.V. in Kooperation mit dem Hans-Litten-Archiv e.V. veröffentlicht wurde. Die Broschüre kann auf der Website des Hans-Litten-Archivs heruntergeladen werden.
Mit freundlichen Grüßen,
Dr. Nikolaus Brauns
Vorsitzender des Hans-Litten-Archivs e.V.
Link zur Broschüre:
Link zum Radiobeitrag über die Anfänge der Roten Hilfe:
Link zum ND-Artikel vom 19.4.2021:
Link zu einem Podcast:
Veranstaltung zu 100 Jahre Rote Hilfe
Aktuelle Öffentlichkeitsarbeit des Hans-Litten-Archivs:
Blogbeitrag, Radiointerview und Online-Vortrag
Ende März 2021 erschien auf dem neuen Archivblog des Hamburger Instituts für Sozialforschung ein Beitrag zum Neuankauf wertvoller Archivalien im vergangenen Sommer und zur Digitalisierung der Bestände aus den 1920er und 1930er Jahren, die inzwischen zu großen Teilen hier einsehbar sind.
Der Blogbeitrag findet sich unter https://sozwissarchiv.de/hans-litten-archiv/
Ebenfalls Ende März führte das Freie Radio bermudafunk ein Interview mit unserem Vorstandsmitglied Silke Makowski zum Thema „Frauen in der Roten Hilfe Deutschlands“, das sich mit den Solidaritätsaktivistinnen der Weimarer Republik und der NS-Zeit befasst.
Der Radiobeitrag ist abrufbar unter https://www.freie-radios.net/108116
Zum selben Thema findet am 19. April 2021 um 19.30 Uhr eine Online-Veranstaltung statt, die von der Roten Hilfe Heidelberg/Mannheim, dem Feministischen Bündnis Heidelberg und der Antifaschistischen Initiative Heidelberg in Kooperation mit dem Hans-Litten-Archiv organisiert wird. Unter dem Titel „‚Arbeiterinnen, kämpft mit in der Roten Hilfe!‘ - Frauen in der Roten Hilfe Deutschlands“ referiert Silke Makowski zum Engagement der Roten Helferinnen in der Weimarer Republik und im Widerstand ab 1933.
Der Link zum Online-Vortrag ist https://rote-hilfe.collocall.de/b/dem-gjj-l6q-egi
Von Michael Dandl
„Wer für Hans Litten eintritt, fliegt ins Lager; selbst wenn Sie es sind!“
Mit diesen Worten soll Hitler den „Kronprinzen des Deutschen Reiches und von Preußen“, Friedrich Wilhelm Victor August Ernst, angebrüllt haben, als dieser sich direkt beim „Führer“ für den in der Weimarer Republik zu Berühmtheit gelangten, allseits geschätzten und als überaus kompetent respektierten Rechtsanwalt der Roten Hilfe Deutschlands (RHD) einzusetzen wagte.
„Es wird niemand irgendetwas für Litten erreichen!“
Mit diesen Worten soll Hitler - blaurot im Gesicht anlaufend - den „furchtbarsten Juristen“, den gnadenlosesten „Hin-Richter“, den „Massenmörder in roter Robe“, Roland Freisler, angebrüllt haben, als dieser den Inhalt eines Gesprächs mit dem „Führer“ auf den am 28. Februar 1933 Inhaftierten zu lenken wagte.
Diese beiden Verbal-Eruptionen Hitlers bringen leitmotivisch den nationalsozialistischen Standpunkt zum Ausdruck, an dem sich der massive, bald international ausgefochtene Kampf für die Freilassung Littens zu orientieren hatte.
Auch Littens Mutter, Irmgard Litten, hatte sich daran zu orientieren. Über einen mit unmenschlichen Qualen und Zermürbungen überfluteten Zeitraum von fünf Jahren trat sie unglaublich energisch, unglaublich mutig für ihren urplötzlich in Haft genommenen Sohn ein, ohne selbst „ins Lager zu fliegen“. Über fünf Jahre hinweg konnte sie immer wieder sehr viel für ihren weggesperrten Hans „erreichen“.
Und doch: Am 4. Februar 1938 - wohl kurz vor Mitternacht - haben ihn dann Faschisten im Konzentrationslager Dachau ermordet: Irmgard Litten, die am 6. Februar 1938 nach Dachau gekommen war, um dort im berüchtigten „Mörderlager“ (Hans Beimler) als erste und letzte Familienangehörige ihren leblosen, ihren toten Sohn zu sehen, war vor Ort unmittelbar bewusst geworden, dass einer der Nazis, der sie und ihre mitangereiste Ärztin zur so genannten Leichenhalle des KZ begleitete, einer der Mörder Hans Littens war. Sie beschreibt diesen SS-ler, der ihn offiziell „nach seinem Tode als erster gesehen hätte“, als „abschreckend verbrecherisch“ aussehend, als „typischen Mörder“, als „Henkersknecht“. Auch wenn sich irgendwann die „Selbstmord“-Version durchsetzen sollte, steht auf der an Littens Geburtshaus in der Burgstraße 43 in Halle an der Saale angebrachten Gedenktafel deshalb zu Recht: „Er wurde in der Nacht des Reichstagsbrandes verhaftet und am 4. Februar 1938 im Konzentrationslager Dachau ermordet.“
Litten, zu diesem Zeitpunkt „ein zum Invaliden geprügelter halbblinder und halbtauber Mann, der nur noch auf Krücken gehen konnte und unter Ohnmachtsanfällen und Herzkrämpfen litt“ (Stefanie Schüler-Springorum), war ja explizit deswegen nach Dachau verbracht worden, weil die Faschisten ihn endgültig „loshaben“ wollten; das dortige KZ-Personal, das die etwa 20 Kilometer vom Zentrum Münchens entfernte ehemalige Munitionsfabrik gar in eine „Mörderschule“ zu verwandeln hatte, hatte den Ruf, schon sehr viele Insass*innen einfach totgeschlagen oder durch bestialische Folterungen in den so genannten Suizid getrieben zu haben. Und das im Übrigen von Anfang an: Im Lager, das als erstes und einziges über die ganzen langen zwölf Jahre der Nazi-Diktatur hinweg Bestand hatte, waren bereits bis August 1933 bis zu 50 „Todesfälle“ zu beklagen. Der bayerische Kommunist, Reichstagsabgeordnete und antifaschistische Spanien-Kämpfer Hans Beimler, der nach „vier Wochen in den Händen der braunen Banditen“ aus diesem sehr frühen Konzentrationslager fliehen und schließlich in Sicherheit gebracht werden konnte, fügte seinen bereits am 19. August 1933 veröffentlichten Erinnerungen an diese grausame Tortur einen Anhang an, in dem er einige der dortigen „Todesfälle“ auflistet; bereits am 4. Januar 1934 (!) war in der Wiener „Arbeiter-Zeitung“ ein darauf Bezug nehmender Artikel erschienen: „50 Ermordete in Dachau“. Der erschütterndste Augenblick im Leben Hans Beimlers war, als ihn am 7. Mai 1933 der von der SS eingesetzte, Furcht und Schrecken verbreitende KZ-Aufseher brutal aus seiner Zelle riss und ihn in die Zelle 4 warf: „Vor meinen Füßen auf dem Steinboden lag die zerschundene, mit dicken Beulen bedeckte Leiche meines langjährigen Kampfgenossen Fritz Dressel.“ Sollten die Schergen des „Tausendjährigen Reiches“ bei Festnahmen also inbrünstig den Schlachtruf „In Dachau sehen wir uns wieder!“ herausbrüllen, so war dies unmissverständlich als Todesdrohung zu verstehen …
Was in den fünf Jahren vor der Ermordung ihres Sohnes mit ihm „gemacht“ wurde, fasste Irmgard Litten in ihrem chronologischen Bericht „Eine Mutter kämpft gegen Hitler“ in eindringlichen Ausführungen zusammen. Dieser Titel des Buches, das 1940 und 1941 – also noch während des Zweiten Weltkrieges – in Frankreich, England, China, Mexiko und den USA erschienen war, rekurriert auf eine im englischsprachigen Raum üblich gewordene Charakterisierung Hans Littens: „The Man Who Crossed Hitler“; er stellt eine „Verlängerung“ dar: Der mit immenser Vehemenz gegen den Faschismus agierende Rechtsanwalt und Strafverteidiger hatte im viel beachteten „Edenpalast-Prozess“ am 8. Mai 1931 (!) Adolf Hitler in den Zeugenstand rufen lassen und dann vor Gericht den tatsächlich persönlich erscheinenden Anführer der von seinen Anhänger*innen herbeigesehnten „Nationalen Revolution“ „in die Enge getrieben“. Litten kämpfte dabei erfolgreich gegen Hitler, indem er überzeugend dessen zuvor geleisteten „Legalitätseid“ für alle registrierbar zerschmetterte, mit dem sich der „Führer der NSDAP“ als „verfassungskonform“ und dem systematischen beziehungsweise taktisch planmäßigen Staatsterror abgeneigt zu inszenieren versucht hatte. Und nun, da er nach der Machtübertragung an die rachsüchtigen Nazis (30. Januar 1933) sofort in deren drastische, abgeschottete Folterhaft gekommen war, musste dieser Littensche Kampf gegen Hitler, gegen die nun herrschende Barbarei von drinnen nach draußen „verlängert“ werden. Zu und von Irmgard Litten.
Ich habe ihren Bericht „Eine Mutter kämpft gegen Hitler“ („Una madre contra Hitler“) in einem Rutsch durchgelesen. Wobei, „in einem Rutsch“ entspricht nicht ganz der Realität – es gibt viele Passagen im Buch, durch die unmöglich „hindurchgerutscht“ werden kann; jene sind von einer solchen folter-, gewalt- und menschenverachtungsdeskribierenden Wucht, dass mensch das rezipierte Buch dann von sich weg legen muss, um in Grauen, Trauer, Wut und unerträglicher Ohnmacht inne zu halten. Ja, sozialgeschichtliches Erinnern (an Widerstand und seine Schlüsselfiguren und seine Ausdrucksformen) sollte immer Kämpfen bedeuten oder für zukünftige emanzipatorische Kämpfe nutzbar gemacht werden können, selbst wenn die Auseinandersetzung mit den ausgebreiteten Inhalten eines nachträglichen Rekapitulierens eine*n zunächst hoffnungslos zurücklassen mag. Aber die hier in aller Deutlichkeit beschriebenen Folterungen und Hinrichtungen müssen im Angesicht des faschistischen Terrors ohnmächtig machen, weil sie unerträglich sind. Und weil wir sie nachträglich auch nicht mehr ungeschehen machen können - hilflos, wie wir sind; nicht glauben könnend, dass Menschen „zu so etwas“ fähig sind. Deshalb müssen wir an solchen Stellen inne halten.
Wenn mensch dann das ganze Buch gelesen hat, bleiben mehrere wesentliche Erkenntnisse hängen, die es eindringlichst dargestellt hat:
Irmgards Bericht stellt zunächst klar, welche Bedeutung die Inszenierung des Reichstagsbrandes für die Nazis hatte. Fast eine Woche vor der so genannten Reichstagswahl am 5. März 1933 nutzte die NSDAP dieses von ihr symbolträchtig zum kommunistischen, klassenkämpferischen „Fanal zum blutigen Aufruhr und zum Bürgerkrieg“ umgewidmete Ereignis, um unter massivstem Einsatz nunmehr verfügbarer staatlicher Machtmittel brutalste, bestialische Gewalt gegen Mitglieder linker Parteien, Organisationen, Arbeiter*innenvereine, gegen Intellektuelle und sonstige „Elemente“ anwenden zu können. Auf der Grundlage der sofort erlassenen „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“, die die Grundrechte der Weimarer Verfassung de facto außer Kraft setzte und der auf Eliminationsideologie gebauten NS-Diktatur den Weg in ihre spezifische „Legalität“, in ihre eigene „Verfassungsmäßigkeit“ ebnete, wurde auch Hans Litten in so genannte Schutzhaft genommen - und zwar am ganz frühen Tage nach dem Reichstagsbrand, am 28. Februar 1933 („um vier Uhr morgens holte man ihn aus dem Bett“).
Das war ein wichtiger, entsprechend vorstrukturierter Teil des selbst gesetzten, reichsregierungsperpetuierten „Auftrags“: Die Faschisten („an der Macht“) räumen so schnell wie nur möglich auf mit allen von ihnen als solche markierten Feind*innen des „Deutschen Volkes“ und des republiktransformierenden NS-Staats. Und Hans Litten, den sie dann ganz schnell „abholten“, war für die Nazis nicht nur ein „jüdisch-bolschewistischer Volks-Schädling“, einer der „geistigen Führer des Kommunismus in Deutschland“ und ein reichsweit bekannter „Rot-Mord-Verteidiger“, sondern auch ein äußerst selbstbewusster, für die Herrschenden insgesamt unangenehmer Anwalt, der sich direkt mit Hitler, dem nationalsozialistischen Heilsbringer, der „Erscheinung“, die die „Deutschen“ wie ein homogenisierender Erlöser aus ihrer vermeintlich desolaten Situation zu befreien im Stande sei, angelegt und ihm dabei eine sehr hohe politische Niederlage zugefügt hatte: Spätestens nach dem „Edenpalast-Prozess“ wusste die ganze Welt, dass das „Dritte Reich“, das da kommen würde, kein an „Verfassungskonformität“ oder gar „Rechtsstaatlichkeit“ gebundenes politisches System werden würde, sondern ein offen terroristisches, ein planmäßig eliminatorisch operierendes. Und dafür war Hans Litten verantwortlich. Dafür musste er büßen, dafür musste er - so oder so - mit seinem Leben bezahlen.
In Irmgards Bericht wird auch deutlich, dass Littens Mutter, die den „Nazis [jede noch so] ungeheure Barbarei zutraute“, von Anfang an wusste, dass es durchaus im Bereich des Wahrscheinlichen zu verorten war, dass ihr ältester Sohn die auf mehrere Jahre angelegte Einkerkerung nicht überleben würde. Sie hatte ihn bereits vor der Machtübertragung an die Nazis immer wieder eindringlich angefleht, doch „wenigstens für eine Weile ins Ausland zu gehen. Ein Haus und Geld waren ihm dort zur Verfügung gestellt“. Aber, er lehnte konsequent mit folgendem Diktum ab: „Die Millionen Arbeiter können nicht heraus, also muss ich auch hier bleiben.“ (Ihm war also bewusst, dass sie ihn - zuerst den „Krieg im Inneren“ vollführend und dann den „Krieg nach außen“ in die ganze Welt tragend - „abholen“ würden, obwohl er allen anderen Klassengenoss*innen, Kampfgefährt*innen gegenüber das Privileg hatte, rechtzeitig zu gehen. Und, daraus schlussfolgernd, er war, ist und will sein Teil des revolutionären Klassenkampfes, dem die historische Aufgabe zukommt, den Deutschen Faschismus an der Macht im Lande des politischen Hauptfeindes zu verhindern.)
Und doch ist es dann nochmals ein großer Sprung zum tiefgreifenden Real-Werden des eigentlich Unvorstellbaren. Denn das, was die von der verdichteten Form bürgerlicher Herrschaft „eingesetzten“ Faschisten dann „an den Tag legten“, war an Grausamkeit, Menschenverachtung, Brutalität, fataler Männlichkeit, Bestialität, Mordlüsternheit, Gewaltförmigkeit, Terror nicht nur nicht zu überbieten; es stand ganz einfach außerhalb der Vorstellungskraft derjenigen, die davon betroffen waren oder getroffen werden sollten. Auch wenn sich die NSDAP seit ihrer Gründung Anfang 1920 im mit allen Mitteln zu führenden Krieg an unzähligen Fronten wähnte; auch wenn sie in den 13 Jahren vor dem 30. Januar 1933 diesen Krieg, diesen mörderischen Terror paramilitärisch auf die Straßen getragen und dabei viele politische Gegner*innen für immer aus dem Weg geräumt hatte – dass sie die Infrastruktur, die Logistik, das Institutionengefüge, die Behördenapparatur, die höchste Aggregationsstufe des öffentlichen Haushalts der Weimarer Republik so rasant, so kompromisslos, so konsequent für eine solche Potenzierung der Unterdrückungsmaßnahmen ins Unermessliche instrumentalisieren würde, das konnte nicht vorausgesagt werden.
Dies hätte aber - auch oder vor allem auf der analytischen Basis komparativer Durchleuchtungen bereits existierender faschistischer oder weiß-terroristischer Regime in Europa - proaktiv verhindert werden können, wenn auf Menschen wie Litten, der die nationalsozialistische Ideologie messerscharf sezierte und energisch vor deren In-Staat-Setzung warnte, gehört worden wäre: Wenn die nazistische, führerprinzipientreue, kombattantäre Massenbewegung mit all ihren eklatanten Ausformungen rechtzeitig und nachhaltig zerschlagen worden wäre (auch oder gerade mit staatlichen Mitteln), anstatt auf höchsten republikrepräsentativen Ebenen immer weitreichendere Bündnisse, Allianzen, Koalitionen mit ihr einzugehen (wie zum Beispiel in Thüringen, das nach den Landtagswahlen vom 8. Dezember 1929 laut Manfred Weißbecker zum „regionalen Experimentierfeld faschistischer Machtausübung“ wurde; die „bürgerlichen“ Landesregierungsparteien DNVP, DVP, „Thüringer Landbund“ und „Reichspartei des deutschen Mittelstandes“ hatten u.a. Wilhelm Frick, der maßgeblich am Aufbau und an der Etablierung des NS-Staats beteiligt war, zum „Staatsminister für Inneres und Volksbildung“ ernannt).
So „begann ab Februar 1933 die Verfolgung der politischen Gegner*innen der Nationalsozialist*innen. (…) Zulässig waren nun präventive Verhaftungen ohne Rechtsbeistand und Gerichtsurteil. (…) Einer Massenverhaftungswelle gegen Kommunist*innen folgte eine weitere gegen Sozialdemokrat*innen und Gewerkschafter*innen, die nicht nur eingesperrt, sondern massiv misshandelt wurden; mehrere Hundert von ihnen wurden ermordet. (…) [E]ine weitere Verhaftungswelle gegen die Anhänger*innen bürgerlicher Parteien [folgte]. Immer wieder wurden aber auch Jüdinnen*Juden oder Personen, die nicht in Opposition zum Nationalsozialismus standen, aber persönliche Auseinandersetzungen mit NSDAP-Funktionär*innen gehabt hatten, verhaftet.“ (Dana Schlegelmilch in: Lotta Nr. 81, Seite 46: „Moor und Heide, Verfolgung, Leid und Tod“)
Irmgard legt dar, mit welcher Strategie sie den Kampf für die Freiheit ihres Sohnes, der zu den prominentesten politischen Gefangenen des Reichs gehörte, verfolgt hat. Die zwei am klarsten zu konturierenden Stoßrichtungen ihres unerbittlichen Einsatzes sind:
a) als Mutter des Gefangengenommenen innerhalb des staatlichen Machtapparats und der Stufung der offiziellen Entscheidungsträger*innenschaft auf eine relevante Regulationsebene zu kommen, von der aus die Freilassung ihres Sohnes angeordnet werden kann (und dann auch konkretisiert wird) und
b) als Mutter des Gefangengenommenen all die von ihr im Zusammenhang mit der konkreten Festnahmesituation ihres Sohnes beschafften Informationen „aus erster Hand“ unverfälscht an Stellen außerhalb des Dritten Reiches weiterzugeben oder weitergeben zu lassen, um von dort aus internationalen beziehungsweise hochkarätigen diplomatischen Druck auf das deutsch-faschistische Terrorregime auszuüben, dem es sich irgendwann beugen muss.
Um erfolgreich in diese Richtungen stoßen zu können, musste sie den Nazis gegenüber, mit denen sie es fortan zu tun haben sollte, eine Rolle spielen; sie musste sich ihnen gegenüber „verstellen“, musste von ihnen falsch eingeordnet werden, musste von ihnen mit den falschen Attributen markiert werden. Immer wieder spricht Irmgard davon, wie „übertrieben korrekt“ sie den obligatorischen „Heil Hitler“-Gruß zu zelebrieren wusste; dabei gab es für sie eigentlich fast nichts Schlimmeres, als diesem zu einem „Gott“ oder „Caesaren“ gemachten „Verbrecher gegen die Menschheit“ in dieser von der lateinischen Grußformel „Ave“ abgeleiteten Façon individuell zu huldigen. (Bisweilen wurde sie gar für eine „fanatisch national“ eingestellte Person gehalten, die nur aufgrund ihrer „persönlichen Erfahrungen“ etwas „unerfahren“, also selbstgefährdend vorgehe.) Sie musste an von der Welt abgewandten, dunklen, dunkelsten Orten der Geiselnahme, der Erpressung, der Misshandlung, der Folter, der Exekution so tun, als sei sie eine „arische“ Mutter „aus besserem Hause“, der es „oberflächlich“ nur darum gehe, die physische, psychische und geistige Stabilität ihres Sohnes nicht irreparabel zerbrechen zu lassen (durch die jeweils herrschenden Bedingungen an diesen Orten). Dabei wusste sie, dass eine gewisse „Anpassung“ an die „Gepflogenheiten“, die stringenten Modalitäten des faschistischen Systems und seiner fanatisierten Repräsentanz vonnöten war, um überhaupt an einflussreiche Entscheidungsträger heranzukommen und diese dann von der offensichtlichen Sinnlosigkeit der Einkerkerung Littens zu überzeugen. Den langen, intensiven politischen Gesprächen mit ihrem sich selbst „links von der KPD“ verortenden, systemantagonistischen Sohn konnte Irmgard entnehmen, dass das „positive“, von staatlichen Gesetzgebungsorganen geschaffene Recht laut Marx ein in Zeiten verschärfter Klassengegensätze stärker vom Reaktionären fundamentierter „Überbau der sozialen Gegebenheiten“ sei, der in den extremsten Unterdrückungsregimes auch vollständig „abgebrochen“ oder „eingerissen“ werden konnte. Der NS-Staat, mit dem es Irmgard Litten nun zu tun hatte, war das in jeder Hinsicht extremste Unterdrückungsregime; in ihm verlor ein im Liberal-Bürgerlichen verhaftetes „Recht“, das idealtypisch möglichst alle, von allen Mitgliedern einer Gesellschaft einzuhaltenden Regeln zur „Konfliktverhütung und -lösung“ umfasst und dadurch ein friedliches Miteinander zumindest „auf dem Papier“ ermöglicht oder ermöglichen sollte, seine rekursive Gültigkeit. Das führte umgehend dazu, dass politische Gefangene „gemacht“ wurden, denen weder ein „Rechts“-Beistand akkomodiert noch eine (individuelle) Straftat zugeordnet noch ein (faires) Gerichtsurteil in Aussicht gestellt werden musste: In „Schutzhaft“ genommen sollte irgendein Geständnis aus ihnen herausgeprügelt, herausgefoltert werden, um dann noch reine Schauprozesse mit den Fast-Totgeschlagenen veranstalten zu können. Wo selbst dies nicht mehr funktionierte, also selbst für die niveau- und würdelose Aufführung eines Schauprozesses nichts Substanzielles oder individuell Vorwerfbares übriggeblieben war, wurden aus den sowieso lebensbedrohlichen Folterungen, die nach außen häufig mit „Verhören“ euphemisiert wurden, oftmals gerichtsurteilsferne, extrajustizielle Hinrichtungen.
Ein bekanntes Beispiel hierfür ist die niederschmetternde Geschichte Erich Mühsams, der wie Litten in der Nacht des Reichstagsbrandes verhaftet und dann am 10. Juli 1934 im KZ Oranienburg ermordet worden war - von der fanatischen SS-Wachmannschaft. So hätte es gleich in den ersten Monaten auch Litten ergehen können (die Mörder Mühsams hatten sogar das Gerücht streuen lassen: „So, der Kerl [d.i. Mühsam] ist fertig. Jetzt kommt das Schwein, der Litten, dran!“); und Irmgard verfolgte selbstverständlich auch immer die ebenfalls katastrophalen Hafterfahrungen anderer politischer Gefangener. (Zenzl Mühsam hatte einmal berichtet, dass bei einem „Transport von Schutzhäftlingen vom Bahnhof nach dem Lager Sonnenburg“ die dorthin Verschleppten „von den Wachmannschaften mit Gummiknüppeln und Fußtritten vorwärts getrieben“ und schließlich von der herbeistürmenden SA halb totgeschlagen worden seien; laut Zenzl wurden sie mit den „Nagelstiefeln so betrampelt, dass sie sich kaum weiterschleppen konnten. Caspar [d.i. Wilhelm Kasper (KPD)], Litten, Mühsam und Ossietzky wurden am schlimmsten misshandelt“.)
Jedenfalls begann sie nun, alles Erdenkliche zu unternehmen, um ihren Sohn wieder lebend aus den jeweiligen Nazi-Folterhöllen, in die er nun geraten war, herausholen zu können. (Folgende, chronologisch geordnete Stationen Littens konnten nachgewiesen werden: Nach seiner Festnahme zunächst kurz in einer SA-Kaserne, wurde er ins Gefängnis Spandau verbracht; von dort ging es ins KZ Sonnenburg; von dort aus wurde er wieder, aber sehr kurz nach Spandau zurückverlegt; kam dann mit sehr schweren Verletzungen ins Moabiter Krankenhaus, um von da aus ab Oktober 1933 im KZ Brandenburg an der Havel seine Haft verbringen zu müssen; Anfang Februar 1934 folgte das „Moorlager“ Esterwegen im Emsland, um schließlich ab dem 7. Juni 1934 vom KZ Lichtenburg „abgelöst“ zu werden; im September 1937 kam er noch kurz in das neu entstandene KZ Buchenwald; Endstation war dann Ende 1937/Anfang 1938 das KZ Dachau) Dabei bediente sie sich des gesellschaftlichen Beziehungsgeflechts, das sie und ihr Mann sich von Königsberg aus aufgebaut hatten - der habilitierte Jurist Fritz Litten, ein früh zum Protestantismus konvertierter Sohn des Vorstehers der Jüdischen Gemeinde, war hier sogar Rektor der Albertus-Universität geworden. Und da er politisch eher als stramm national-konservativ, in den Traditionen des Kaiserreichs verharrend, DVP-wählend eingestuft werden musste, reichten die Beziehungen der Littens bis weit ins rechte Lager der Weimarer Republik hinein. Das wollte sich Irmgard nun zu Nutze machen - als Mutter, die sich nie „für Politik“, sondern ausschließlich für Kunstgeschichte interessiert habe. Sie ging davon aus, dass mit den Hafterfahrungsschilderungen ihres Sohnes konfrontierte national gesinnte, erzkonservative, reaktionäre Politiker*innen, Kulturschaffende, Amtsträger*innen dort „ein gutes Wort“ für ihn einlegen würden, wo ein Beenden dieses Grauens substanziell in die Wege geleitet werden konnte. (Sie selbst nennt dies: „Mobilmachung all meiner Beziehungen“) An diesen Stellen fragt mensch sich dann immer wieder, woher sie die Hoffnung nahm, sich auf dieser Schiene ihres Erachtens erfolgversprechend nach vorne zu bewegen. Denn sie vergegenwärtigte ja, dass der „Allererste Mann im NS-Staat“, der über alles informiert zu werden hatte und die Konstanz oder Permanenz der vollständigen Kampfunfähigkeit „seiner“ politischen Gefangenen intensiv überwachte, nicht dazu zu bewegen war, jemanden wie Hans Litten wieder freizulassen, zu begnadigen. Schlimmer noch, womit wir wieder bei den verbalen Eruptionen Hitlers vom Anfang des Textes wären: Der „Führer“ wollte als gesichert wissen, dass „niemand irgendetwas erreichen“ könne für diesen „Anwalt des Proletariats“ - schon gar nicht dessen Begnadigung. (Den Gestapo-Personalakten Littens lag ein Bild bei, das „meinen Sohn als Verteidiger, Hitler als Zeugen vor Gericht einander gegenüberstehend zeigte“.) Irmgard spricht sogar von einer „Liste“, die es wohl gegeben haben mag im NS-Staat, auf der die Namen jener Gefangener standen, die unter keinen Umständen wieder freikommen durften; das waren die zum Lebendig-Begrabensein Verdammten, mit denen „nichts ohne Genehmigung des Führers unternommen werden“ durfte. Hans Achim Litten gehörte zu ihnen.
Und trotzdem erhoffte sich Irmgard Vieles von ihrem Kampf für diesen einen, ihr am Allernächsten stehenden politischen Gefangenen, der für sie ein „Weltwunder an Gelehrsamkeit“ darstellte. So wie ihr geht es heute noch vielen Menschen auf der ganzen Welt, die sich mit politischen, ins Visier von Repressionsbehörden geratenen Gefangenen solidarisieren und sich unablässig, hartnäckig für sie einsetzen - obwohl sie, umgeben von unmenschlichen, lebensvernichtenden, ungerechten, versklavenden Verhältnissen, zu registrieren haben, dass das herrschende System um sie herum das kalkulierte Verreckenlassen von in die Knäste Gesteckten staatlich sanktioniert, innerhalb des Apparats also keine „Besserung“ erwirkt werden kann. Ich denke, Irmgard hatte ein durchaus ambiges Verhältnis zu ihren eigenen Ambitionen hinsichtlich des auch für sie bedrohlicher und bedrohlicher werdenden Kampfes für und um Hans. Sie war ja über die Jahre hinweg mit ihrer „Sache“ an die höchsten Repräsentanten des Dritten Reiches herangekommen - selbst an den Reichsjustizminister Gürtner, selbst an den Präsidenten des Volksgerichtshofes Freisler, selbst an Himmler, selbst an Göring, dessen Ehefrau Emmy sie noch aus deren Zeit als Theaterschauspielerin kannte -, aber erreicht hatte sie damit gar nichts, nie etwas. (Im Gegenteil: Göring beispielsweise soll Emmy gegenüber abschließend zum Ausdruck gebracht haben: „Wenn du mir dauernd mit Litten in den Ohren liegst, werde ich überhaupt nicht mehr mit dir zusammen sein!“) Auch alle ihre Gnadengesuche wurden mit der immergleichen Begründung abgelehnt: „Ihr Sohn [ist] ein bedeutender Kopf und daher ein gefährlicher Gegner. Er würde gegen uns arbeiten, wenn er freigelassen würde.“ (Der Adjutant Himmlers hat ihr sogar folgende Worte an den Kopf geworfen: „In diesem Falle ist selbst der gute Papa Hindenburg machtlos.“)
Erfolgreicher war sie dann - über Umwege - schon eher mit dem koordinierten Erzeugen diplomatischen Drucks auf allerhöchstem Niveau - sie nennt es: „Entrüstung des Auslands“. Und weiter: „Darüber, dass [das Dritte Reich seine] Häftlinge [in den] Lager[n] langsam zu Tode marter[t], empört sich die ganze zivilisierte Welt.“ (Hier wird im Übrigen der Antagonismus zwischen faschistischer Barbarei und Zivilisation sehr eindringlich zur Geltung gebracht; der Deutsche Faschismus stelle den bewussten, irreversiblen Bruch mit der Zivilisation dar, die nur noch außerhalb seines Zugriffsbereichs gefunden werden könne.) Über diverse Kontaktstellen und -personen in Prag, in den Niederlanden und in der Schweiz, die immer wieder von ihr, ihrem Sohn Heinz oder Margot Fürst (auch auf illegalisiertem, gefährlichem Wege) aufgesucht und mit den jeweils neuesten Informationen „gefüttert“ worden waren, konnte Aufmerksamkeit evoziert werden, die schließlich auch in großen englischen Zeitungen ihren äußerst öffentlichkeitswirksamen Niederschlag fand. Von England aus wurde denn auch am 31. Oktober 1935 eine der spektakulärsten, wuchtigsten Aktionen für die umgehende Freilassung Hans Littens umgesetzt: Reginald Clifford Allen, 1st Baron Allen of Hurtwood, besser bekannt unter dem Namen Lord Allen (von der sozialistischen Independent Labour Party), machte an diesem Tag eine als Protestnote zu rubrizierende „Eingabe“ - direkt bei Hitler. In dieser von mehr als 100 angesehenen Jurist*innen Englands unterzeichneten „Eingabe“ wurde darum „gebeten“, das schwerverletzte, nachhaltig traumatisierte Folteropfer Hans Litten unverzüglich freizulassen; zum einen sei er entlang objektiver juristischer Maßstäbe, die sich rechtsstaatlich arithmetisiert an konkreten, überprüfbaren, zuzuordnenden Tatnachweisen auszurichten haben, „völlig unschuldig“; zum anderen sei es nicht hinnehmbar, dass ein namhafter Rechtsanwalt dazu gezwungen werden sollte, sein in der Weimarer Republik verbrieftes Berufsgeheimnis zu verraten. Dabei spielten die Verfasser*innen des Appells auf den skandalösen Umstand an, dass die „Rechtsnachfolger*innen“ der ersten parlamentarischen Demokratie in Deutschland ein Wiederaufnahmeverfahren des so genannten Felseneck-Prozesses in die Wege geleitet hatten, um sich endlich an Litten rächen zu können. Nach einem bewaffneten Überfall von etwa 150 Sturmbannmännern der Berliner SA auf die im Norden Berlins liegende Laubenkolonie „Felseneck“, bei dem in der Nacht vom 18. auf den 19. Januar 1932 ein „Kolonist“ erschossen worden und ein SAler (höchstwahrscheinlich durch „Friendly Fire“) ums Leben gekommen war („im Handgemenge getötet“), hatte Litten - im Rahmen seines aufwändigen Rund-um-die-Uhr-Engagements für die Rote Hilfe Deutschlands, die die Versäumnisse der Voruntersuchung und die gefälschten Beweise der Polizei und des Untersuchungsrichters lückenlos aufdecken lassen wollte -, 18 der insgesamt 19 angeklagten Bewohner des „Felsenecks“ vertreten, die durch ihren Einsatz ein schlimmes Massaker verhindert hatten (von den 150 SAlern waren lediglich fünf angeklagt worden). Ihnen wurde der angebliche Mord an dem Faschisten vorgeworfen. „Auf Littens Initiative wurde [sogar] eine Sonderzeitung zum Felseneck-Prozess mit dem Namen Attacke herausgegeben.“ (Nikolaus Brauns)
„Zwei Tage vor Weihnachten 1932 wurde das Verfahren (...) gegen alle Angeklagten eingestellt; nur zwei Arbeiter der Kolonie wurden wegen Diebstahls zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt (…). Es war Littens letzter Prozess. Seine Konzessionslosigkeit, aber auch seine Intelligenz und forensischen Fähigkeiten hatten ihn zum wohl gefürchtetsten und meist attackierten Anwalt gemacht.“ (Norman Paech) In Spandau wurde Litten so lange und so heftig gefoltert, dass er unter lebensbedrohlichem Zwang und unter erpresserischer Androhung weiterer „Verhöre“ schließlich „aussagte“, im „Felseneck“-Prozess wissentlich einen Mann verteidigt zu haben, der einen SAler erschossen habe. (Irmgard hierzu: „Am anderen Morgen [nach dem „Verhör“] war in sämtlichen Zeitungen ein Bericht unter einer besonders großen Überschrift: »Hans Litten gesteht Mitwisserschaft an einem Mord«.“) Um diese barbarische Zerschmetterung des sakrosankten rechtsanwaltlichen Berufsgeheimnisses nicht als legitim, als „ergebniserfolgreich“ dastehen zu lassen, schrieb der total verstörte, körperlich schwer zugerichtete Hans kurz darauf einen Bericht an die Gestapo, „dass er unter Zwang ausgesagt habe, dass nicht eine der Aussagen der Wahrheit entspräche, und dass er jede Aussage widerriefe“. Und weiter: „Da er die ihm angedrohten Folgen dieses Widerrufes fürchte, so nähme er sich das Leben.“ Das wäre ihm dann auch tatsächlich gelungen, wenn nicht ein Mithäftling, der zufällig Arzt war, ihn wieder ins Leben „zurückgeholt“ hätte - obwohl er schon fast vollständig ausgeblutet auf dem Boden seiner eigenen Zelle lag.
Der englische Appell jedenfalls muss im NS-Apparat solch hohe Wellen geschlagen haben, dass einer der späteren Hauptkriegsverbrecher, Ullrich Friedrich Willy Joachim von Ribbentrop, genötigt wurde, Lord Allen direkt und ausführlich zu antworten. Wir müssen Irmgard dankbar sein, dass sie dieses von Hitlers Reichskanzlei in Auftrag gegebene, am 16. Dezember 1935 verschickte Schreiben Ribbentrops komplett und unkommentiert abgedruckt hat, obwohl es ein abscheuerregendes Produkt selbstlegitimatorischer Ideologem-Aneinanderreihung darstellt, das den hohen, eigentlich unerreichbaren Verblendungsgrad anzeigt, unter dem im deutsch-faschistischen Staatsgebilde „Politik“ exekutiert wurde. Es bildet die Schlüsselstelle in Irmgards Berichts, wenn es darum geht, als Rezipient*in eine komprimierte Zusammenfassung an die Hand gegeben zu bekommen, die das nazistische Terrorsystem (und seinen kompromisslosen Umgang mit „seinen“ politischen Gefangenen) in eigenen Worten entlarvt. Worte freilich, die sich einzusaugen beinahe schon körperliche Qualen bedeuten. Andererseits sind sie - für Faschismen davor, währenddessen und danach - von solcher Allgemeingültigkeit, Universalität, Normativität, dass sie auch heute noch - in modifizierter, aktualisierter, kontextkalibrierter Form - benutzt werden können von jenen, die nach wie vor Staaten und Gesellschaften von Grund auf faschisieren wollen.
Nach dem Ribbentropschen Schreiben merkt Irmgard nur noch zwei Sachen an: Zum einen habe sie in „einer Eingabe an Ribbentrop (…) Satz für Satz seiner unsinnigen Behauptungen“ widerlegt; zum anderen war ihr spätestens jetzt klar, dass sie [die Faschisten] die Absicht hatten, „meinen Sohn lebenslänglich gefangenzuhalten“. Es gehört zu den faszinierenden Facetten des Berichts, dass Irmgard in kurzen Nebensätzen die „Entschlüsselung“ der nazistischen Gesinnung als gesetzt reklamiert, ohne dies dann noch ellenlang ausbreiten zu müssen: Hier fasst sie in ihrem abbrechenden Hinweis auf die „Satz-für-Satz-Widerlegung“ der „unsinnigen Behauptungen“ Ribbentrops zusammen, worauf der NS-Staat gebaut wurde: auf extrem wirkmächtig gewordenen, annihilationsexzessiv materialisierten Lügen, auf wissenschaftlich Widerlegbarem, auf monströsen Verschwörungsnarrativen, auf negativer Vergesellschaftung, auf völkischem Chauvinismus, auf weltunterjochendem Imperialismus, auf fataler Misogynie, auf ariosophisch-manichäischer Mythologisierung, auf dem „Un-Sinn“.
Ribbentrop gibt zunächst - an die „englischen Rechtsfreunde“ gerichtet - zum Besten, dass der Kommunist Hans Litten wegen „staatsfeindlicher Betätigung inhaftiert“ worden sei und „seine geistige Einstellung (…) eine Enthaftung unter diesen gegebenen Umständen nicht“ zulasse. Dann amalgamiert er in erschütternd transparenter Manier nazistisches Regierungs- und Rechtssystem: Selbstzweckfunktion dieses „aufeinandergefallenen“ oder „ineinandergefallenen“ Gleichschaltungs-Systems sei die möglichst rabiate, möglichst brachiale Verhinderung des von Kommunist*innen bewirkten Sturzes des ganzen deutschen Volkes ins Unglück, „an den Rand des Abgrundes“. Litten wird zu einem „unverbesserlichen Träger und geistigen Führer“ eines solchen „Volksvernichtungswillens“ gemacht, zu einem evidenten „Schädling der menschlichen Gesellschaft“; sein „Tätigkeitsfeld“ müsse „beschränkt“ werden; mit „eiserner Konsequenz“ und „Härte“ müssten die „Träger (des) schleichenden und zersetzenden kommunistischen Giftes in Deutschland isoliert“, also mit allen Mitteln vom gestählten, gepanzerten „Volkskörper“ ferngehalten werden. In diesem organizistisch-biologistischen, rassen- und euthanasiepolitisch durchdrungenen Verständnis von „Volk“, das Ribbentrop wiederkäut, war Litten ein politischer Gefangener, der an von der Welt abgeschiedenen, uneinsehbaren, zivilgesellschaftlich undurchdringbaren, sozial entsicherten, panoptikonisch strukturierten, lückenlos überwachten, verlorenen Orten im eigentlichen Wortsinne „unschädlich“ gemacht werden sollte. Er war nämlich - draußen in „Freiheit“, draußen als energischer Ankläger, als kompromissloser Vorsitzender politischer, staatsunabhängiger Tribunale, als Initiator von hunderttausendfach aufgelegten Rote-Hilfe-Broschüren gegen Weimarer Polizeigewalt und faschistischen Straßenterror - „schädlich“ für diesen in einem Guss zusammenzuschweißenden, homogenisierten „Volkskörper“, der das „Deutsche Reich“ fortan zu sein hatte oder werden sollte. Er sollte für alle Zeiten kampfunfähig gemacht werden: und in der faschistischen Ideologie, die sich nun vollkommen im Staat ausgedehnt hatte, die Staat wurde, hieß das, dass er liquidiert, jedenfalls aus der Welt geschafft werden müsse. Dies sei nur eine Frage der Zeit ...
Dann präsentiert er seinen in Pathos ertränkten Stolz auf die „in der Geschichte des deutschen Volkes größte geistige Revolution, die zu der Machtergreifung durch den Nationalsozialismus am 30. Januar 1933 führte“, und die „unter dem Zeichen völliger Legalität vor sich gegangen“ sei. (Aus diesen propagandistischen Ausführungen sollten Antifaschist*innen den unverrückbaren Schluss ziehen, dass den Nazis die komplette staatliche Macht übertragen wurde; welche*r in diesem Kontext (auf)wertend und realitätswendend von „Machtergreifung“ oder gar „Revolution“ spricht, übernimmt das verblendungszusammenhangsentfesselnde Romantisieren der Menschheitsverbrecher*innen, die sich dann in concreto am weitesten von bürgerlich konnotierter „Legalität“ entfernt hätten.)
Dann führt er aus, dass das „Dritte Reich“ keinen solchen Fehler mehr machen werde wie bei Georgi Dimitroff, einem der Hauptangeklagten im Reichstagsbrandschauprozess (in dessen willkürlich zusammengewürfeltem „Ermittlungszusammenhang“ ja auch Litten ursprünglich in Schutzhaft genommen worden war): Dieser sei auf internationalen Druck hin freigelassen worden, obwohl laut Ribbentrop vorherzusehen war, dass er im Anschluss als „wahrer Führer der Komintern“ zu einem der „eingefleischtesten Kommunisten und verschworensten Terroristen“ werden würde, der Propaganda, Terror und Gewalt verbreiten würde; auch im von Lord Allen repräsentierten „britischen Imperium“. Litten könne also nicht oder besser: niemals mit einer „Enthaftung“ rechnen; in „Freiheit“ wäre solch ein „Volksvernichter“ viel zu gefährlich für den wehrhaften „Führer-Staat“, der hier in Vertretung Ribbentrops „spricht“.
Und so war es denn auch: Die „Enthaftung“ Littens konnte weder:
a) unter Einflussnahme auf das „Innere“, die „harten Kerne“ des NS-staatlichen Machtapparats zur konkreten Anordnung gebracht noch
b) unter Erzeugung internationalen beziehungsweise hochkarätigen diplomatischen Drucks auf das deutsch-faschistische Terrorregime erreicht werden.
Auch das Begehen eines dritten Weges war schon in Ansätzen zum Scheitern verurteilt gewesen, weil sich zwei Gestapo-Spitzel „eingeklinkt“ hatten: Margot Fürst, ihr Mann und andere Nazi-Gegner*innen wollten Hans aus dem KZ Brandenburg an der Havel befreien, ihn „herausholen“. Bereits weit vor dem anvisierten „Tag der Entführung“ wurden die Fürsts festgenommen, ohne überhaupt in die Nähe Brandenburgs gekommen zu sein; Max Fürst wurde nach zwei brutalen Gestapo-Verhören, bei denen nichts Substanzielles, nur Widersprüchliches aus ihm herausgebrügelt werden konnte („man sah, dass er tatsächlich so gut wie unbeteiligt war“), für mehrere Monate ins Lager Oranienburg gesteckt; Margot Fürst, die der Gestapo gegenüber überzeugend vermitteln konnte, dass alles Befreiungs-Relevante ausschließlich von ihr ausgegangen sei und alle anderen „Beteiligten“ nicht (über die „Einzelheiten“) Bescheid wussten, kam zwar in länger angesetzte Haft, fiel aber bereits im August 1934 unter so genannte „nationalsozialistische Straffreiheitsbestimmungen“, die bei Irmgard zur letzten „Hindenburg-Amnestie“ werden (Hindenburg ist am 2. August 1934 gestorben). Die nun „auf Schritt und Tritt bedroht[en] und verfolgt[en]“ Fürsts verließen schließlich mit ihren Kindern Deutschland. Irmgard, die „auf dem Standpunkt [stand], (…) niemals etwas mit illegalen Dingen zu tun haben“ zu dürfen, hatte rein gar nichts von einem Befreiungsversuch gewusst, auch wenn viele ihrer an die Fürsts weitergegebenen, authentischen Informationen aus den Lagern gewinnbringend in die Befreiungspläne implementiert wurden.
Abgesehen davon, dass Hans Litten selbst nach dem bereits in Ansätzen gescheiterten Befreiungsversuch „drei Wochen lang (…) in strengster Isolierung im Bunker festgehalten“ wurde, musste er bei den „Verhören“ danach den Kode preisgeben, auf den sich er, seine Mutter und die Fürsts fürs Dechiffrieren vermeintlich oberflächlicher, „unbedarfter“ Briefnachrichten-Korrespondenz zwischen drinnen und draußen geeinigt hatten (im Littenschen Chiffrierungsfalle fungierte das Nomen „Denkmalsfigur“, das in Kreuzworträtseln zur sechs-buchstabigen „Statue“ wird, als Schlüsselwort; „jeder Buchstabe der Botschaft [wurde] durch den Buchstaben ersetzt“, der in jenem zentralen Referenzbegriff darauf folgte): Nur so konnte er belegen, dass er „von dem Entführungsplan [der Fürsts] zwar gewusst, ihn aber weder angenommen noch abgelehnt habe“, also „passiv“ geblieben sei. Nach diesem „Vorfall“ hat es lange gedauert, bis Irmgard ihren Sohn wieder besuchen durfte …
Jedenfalls konnte Irmgard die auf fünf Jahre ausgedehnte Ermordung ihres Sohnes nicht verhindern, obwohl sie ihr eigenes Leben für dessen Freilassung gegeben hätte. Ihr unermüdlicher Kampf konnte nicht verhindern, dass sie am 6. März 1938 in die „Leichenhalle“ des KZs Dachau geführt wurde, in die der tote Hans hineingelegt worden war. Auch ihre Hoffnung (auf Freilassung Hansens) starb zwar zuletzt, aber dennoch war sie gestorben. Und mit ihr die andere Hoffnung, weiterhin im auf den Zweiten Weltkrieg zusteuernden Deutschen Reich ansässig bleiben zu können: Die Litten-Familie emigrierte nach der Ermordung des ältesten Sohnes nach Großbritannien.
Vielleicht hat sich Irmgard deshalb nie mit der Kollektivschuldthese anfreunden können, weil sie zwar eine vollständiger und vollständiger werdende, gesellschaftlich aktiv mitgetragene Durchdringung aller Lebensbereiche mit deutsch-faschistischer Theorie, Terrorpraxis, Ideologie, Mystik, Gewaltförmigkeit, Massenpsychologie, Verblendung, Propaganda in direkter Auseinandersetzung mit dem Zuchthaus-, Zwangsarbeits-, Gefängnis- und Lagersystem nachvollziehen und nachzeichnen konnte, aber immer auch mit sehr vielen Menschen zu tun hatte, die innerhalb der Reichsgrenzen effektiv Widerstand gegen die fanatisch und gewaltexzessiv und eliminatorisch wütende Nazi-Barbarei geleistet haben. Einen Grad von Widerstand, der - vernünftig betrachtet - verunmöglicht, diesen antifaschistischen Widerstandskämpfer*innen eine Mitverantwortung an der singulären Menschheitsverbrechensverwaltung zuschreiben zu können. Und hier zieht Irmgard eine klare Linie zu all jenen, die anscheinend nichts gewusst haben, die nichts mitgekriegt haben, die bewusst weggeschaut haben, wenn festgenommen oder deportiert wurde, die sich „gelegenheitsnutzend“ an für sie lukrativen „Arisierungsmaßnahmen“ beteiligt haben, die zufällig denunziert haben, wenn sie zufällig etwas gesehen haben, die „mitgespielt“ haben, um nachher fragen zu können: „Was hätte ich denn machen sollen; sie hätten mich doch umgebracht?“ Oder noch besser: Die „nur“ Befehle ausgeführt haben, die nun einmal getroffen wurden in einem völkerrechtlich anerkannten, aber aktiv aus dem Völkerbund ausgetretenen Staatsgefüge. All jene (und das sind eben die meisten) sind selbstverständlich schuld an der lange zwölf Jahre andauernden, in die Reibungslosigkeit transformierten Funktionsweise des gezielt an die Macht gehievten NS-Apparats.
Irmgards damalige Wohnung hatte sich im Übrigen zu einem allgemein anerkannten „Umschlagplatz“ der Informationsweitergabe entwickelt: Die meisten der Ex-Häftlinge, die Hans während seiner fünfjährigen Odyssee kennengelernt oder etwas von ihm „mitgekriegt“ hatten, besuchten seine Mutter (unter hohem persönlichem Risiko), um ihr ausführlich und ungeschönt die Zustände in den Nazi-Folterhöllen darzulegen. Auch deshalb ist aus ihrem Bericht „Eine Mutter kämpft gegen Hitler“ eine erschütternde Dokumentation geworden, bei der sie authentische Schilderungen von unmenschlicher Ausbeutung, von Bestrafung, von bestialischer Misshandlung, von Psychoterror, von Folter, von Hinrichtungen schonungslos in allen Einzelheiten darlegt und in Beziehung setzt zu dem, was ihrem Sohn, der viel Zeit in Einzelhaft verbringen musste, entweder selbst widerfahren ist oder was er sich ansehen oder anhören musste. Und indem Irmgard das so schonungslos veranschaulicht, macht sie unmissverständlich deutlich, dass es dem Deutschen Faschismus als terroristischem Machtorgan immer nur um die Annihilation des „Volksschädlingshaften“ gegangen sei. Es ist noch nicht einmal die erschütterndste Stelle im Buch, aber sie zeigt in fast schon plastischer Weise an, wo der Weg eines offensiven Nazi-Gegners zwischen 1933 und 1945 enden sollte - in seiner staatlich sanktionierten Liquidation: Alle Neuankömmlinge in Brandenburg an der Havel „wurden schwer misshandelt. Außerdem durften sie sich in der Zelle nicht beschäftigen, durften nicht lesen, hatten keine Beleuchtung, sodass es vom Nachmittag an bis zum Morgen stockfinster war. Sie bekamen keinen Tropfen Wasser, weder zum Trinken noch zum Waschen. Sie durften sich nicht rasieren. Man wollte, dass diese politischen Häftlinge möglichst verkommen aussahen, um sich selbst auch möglichst verkommen zu fühlen. Die Gefangenen (…) mussten in rasendem Tempo über die Höfe rennen. Wer zurückblieb, wurde angebrüllt, geschlagen, getreten. Der dreckigste Hof wurde zum Exerzieren ausgesucht, auf und nieder, auf und nieder; man musste sich in die Pfützen werfen, durch meterlange Pfützen kriechen, in Pfützen Liegestütz machen. Alles bis zur Bewusstlosigkeit. (…) Die übrige Zeit war man untätig in die Zelle eingeschlossen. Hans aber hatte [auch hier] keine Ruhe, dauernd noch Verhöre ...“
Als wir im Jahre 2005 in Göttingen das Hans-Litten-Archiv gegründet haben, gab es keine Diskussion darüber, nach wem es benannt werden würde: „Der Namensgeber des Archivs … war [nicht nur] einer der bekanntesten Rechtsanwälte der Roten Hilfe Deutschlands in der Weimarer Republik“, sondern über seine renommierte Stellung als solidarischer Strafverteidiger hinaus auch ein politischer, nicht parteiförmig organisierter, im besten Sinne strömungsübergreifend wirkender Aktivist, der sich an der Seite der Arbeiter*innenbewegung am emanzipatorischen Kampf gegen staatliche Unterdrückung, Ausbeutung, Verfolgung, Repression beteiligt hat. Er wollte verhindern, dass sich die reaktionärsten Teile des Weimarer Staatsapparates im Krisenbewältigungsmodus in eine Position brächten, von der aus sie den massenbewegten Faschismus erfolgreich an die Zentren der Macht bugsieren könnten. Gelungen ist ihm dies nicht; und für die nazistischen „Krisenbewältiger*innen“ oder „Krisenlöser*innen“, für die nunmehr gesamtstaatlich legitimierten „Kämpfer*innen gegen den Marxismus“ bedeutete dies, ihn der Vergessenheit anheimfallen zu lassen, ihn zu töten, weil er vergessen, weil sich niemand mehr an ihn erinnern können wird. Und das ist ihnen nicht gelungen.
Auch wenn solche Kämpfe, wie sie der unvergessliche Hans Litten geführt hat, im extremsten, im absoluten Falle mit dem Tod der darin und dabei Engagierten enden können; es gibt keine Alternative dazu, sie zu führen. Und zwar genau so, wie sie Hans Litten geführt hat, wie er sie weiterhin geführt hätte, wäre seinen Mördern nicht die gesamtstaatliche Macht (zur grenzenlosen Willkür) überantwortet worden.
Wir aber leben noch, wir sind noch in der Lage, seine emanzipatorischen Kämpfe, die am 30. Januar 1933 ein jähes Ende fanden, hier und jetzt und modifiziert fortzusetzen, indem wir zusammen dafür sorgen, dass sich die so genannte Demokratie als eine verdichtete Form bürgerlich-kapitalistischer Herrschaft, die es revolutionär zu überwinden gilt, niemals mehr für den offen terroristischen Faschismus wird entscheiden können. Das sind wir Hans Litten schuldig. Deshalb werden im Hans-Litten-Archiv nicht nur „Materialien der Roten Hilfe und anderer linker Antirepressionsgruppen sowie Dokumente zur Geschichte der politischen Justiz und der Verfolgung vom Ende des Ersten Weltkrieges über die NS-Zeit, der Verfolgung von Kommunist*innen unter Adenauer und der Berufsverbote der 1970er Jahre bis zur Gegenwart“ gesammelt, sondern auch „Dokumente über den Widerstand gegen die Verfolgung der radikalen Linken, der sozialen Bewegungen und der Arbeiter*innenbewegung durch Polizei und Justiz seit der Wiedergründung der Roten Hilfe Mitte der 1970er Jahre gelagert“. Denn nur, wenn wir uns historisch des Wissens bemächtigen, wie und weshalb und mit welchen Folgen sich eine Demokratie in den totalen, den repressivsten, den herrenmenschentümelndsten Faschismus hinein involutionieren konnte, können wir im Hier und Jetzt radikale entnazifizierende Maßnahmen ergreifen, die eine Wiederholung von 33 von vornherein zu unterbinden in der Lage sind. Aber eben auch, wie weit staatliche Repression und das systematische Kampfunfähigmachen der an grundlegender Veränderung Interessierten dort gehen können, wo gegenwärtig von einer stabilen beziehungsweise wehrhaften „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ geraunt wird. Das Hans-Litten-Archiv hilft uns bei dieser Bemächtigung. Es ist der am 13. Juni 2005 als gemeinnützig anerkannte „Verein zur Errichtung und Förderung eines Archivs der Solidaritätsorganisationen der Arbeiter- und Arbeiterinnenbewegung und der sozialen Bewegungen (Rote-Hilfe-Archiv) e.V.“
[Alle nicht gekennzeichneten Zitate im Text sind dem Buch entnommen: Irmgard Litten: „Eine Mutter kämpft gegen Hitler“, Deutscher Anwaltverlag, Bonn, 2000 (Lizenzausgabe des Röderberg-Verlags)]